Der nationale
Gegenfatz.
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Kunft für die Wahre. vDies ift fo wahr, fügt er dann hin-
zu, dafs, wenn felbfi Albrecht Dürer, ein feinfühliger und
gefchickter Mann in feiner Art, mich oder F rancesco d'Hol-
landa täufchen und ein Werk nachahmen oder machen
wollte, als fei es in Italien gefchaffen, er zwar damit, fei es
nun eine gute, eine mittelmäßige oder fchlechte Malerei
liefern würde, der ich aber ficher fogleich anfähe, dafs fie
weder in Italien noch von einem Italiener gemacht iftr l).
Für die frühe Zeit Dürers hat jenes herbe Urtheil des herben
Florentiners gewifs Berechtigung. Wenn fich Dürer aber,
wie wir fehen werden, allmählich von jenen Mängeln oder
vielmehr von jenem UeberHuffe losfagte, um fchliefslich auch,
gleich Michelangelo, in fchlichter Einfachheit das wahre Wefen
der Kunft zu erkennen, fo mag das Beifpiel Barbaris darauf
nicht ohne Einflufs geblieben fein. An Concentrierung, an
fchlichtem Mafshalten bis zum Genügen am Einzelnen konnte
Dürer von dem Venetianer wohl lernen. Aber auch eine
Anatomie, wie die des heil. Sebaftian in halber Figur auf
einem Kupferftiche Jacopos in der Sammlung des Barons
E. Rothfchild in Paris 2) mufste Dürers Ehrgeiz auf eine harte
Probe Hellen. Denn die Formen und Verhältniffe des menfch-
liehen Körpers zu ergründen, war die wichtigfte Aufgabe
der Malerei. Je weniger dem deutfchen Meifier die An-
fchauung zu Hilfe kam, deflo eher glaubte er durch theo-
retifche Forfchung hinter die Geheimniffe zu kommen, die
er in diefer Beziehung bei dem Italiener vorausfetzte. Und
doch litt es ihn nicht bei blofser Nachahmung. Immer
wieder kehrt er zur Natur zurück und fucht bei ihr den
Ausweg aus allen Widerfprüchen.
Uns mag es heute auffallend erfcheinen, dafs ein fo
felbPcändiger Meifier wie Dürer fo lange Störungen von einem
anderen erleidet, der fich an Begabung und allgemeiner Be-
deutung gar nicht mit ihm meffen kann. Es haben eben
I) Manuscrit de F rangois de Hol-
lande; A. Raczynski, Les Arts en
Portugal, Paris 1846; 14-15.
2) Publiciert in den Heliogravures
Amand-Durand, Paris 1874. Galichon
Nr. 9,