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Landfchaftsmalerei,
Wanderfchaft und
empfundener Wirklichkeit näher zu bringen. Indem er fo
den Geftalten lllantegilas eine beflimmtere Exiftenz, eine deut-
lichere Körperlichkeit giebt, entreifst er ihnen aber wider
Willen ihre Seele, und das iPc die Kehrfeite jenes Realismus,
der in der äufserften Durchbildung der Formen die Wahrheit
fucht. Wie wenig das Zurückbleiben hinter der Belebung
des Originals in der Abficht Dürers lag, zeigt feine fpätere
Entwickelung, die ihn der grofsartigen Einfachheit Mantegnas
immer näher bringt; und dafs er auch nach feinem zweiten
Aufenthalte in Venedig nicht aufhörte, deffen mächtige
Affectmalerei zu bewundern, beweift die Geftalt des Apofiels
Johannes auf dem igrofsen Kreuzt, dem Stiche von 1508, die
einer deutlichen Rückerinnerung an die bekannte Figur des
auffchreienden Johannes in Mantegnas Grablegung entfprang.
Es ift bezeichnend für Dürers urfprüngliche Anlage,
dafs ihn vorzüglich folche Compofitionen zur Nachbildung
anregen, die einer tieferen leidenfchaftlicheren Erregung
Ausdruck verleihen. Die deutfche Malerei hatte fchwer genug
den Zwang des alten Stiles von fich abgefchüttelt. Gegen-
über dem verhaltenen Affecte ihrer hageren Gewandfiguren
mufste der Ausbruch der Leidenfchaft an den völligen, nackt
gedachten Geltalten der paduanifchen Renaiffance wie ein
Act der Befreiung erfcheinen. Hier fand das nordifche
Streben nach Natur und Belebung einen verwandten An-
knüpfungspunkt, bevor {ich ihm das höhere Gefetz bewufster
Mäfsigung offenbarte. Ruhe und ftrenge Anordnung konnten
leicht als neue Feffeln erfcheinen; und nichts deutet darauf
hin, dafs die fchlichte Gruppierung der Heiligen auf vene-
tianifchen Altarbildern auf Dürer damals einen befonderen
Eindruck gemacht hätte.
Auch zum Verftändniffe der mannigfachen Zierformen
wie iie in den gemalten Architekturen und Ornamenten der
paduanifchen Renaiffance vorkommen, fehlte es Dürer im
Jahre 1494 noch an der nöthigen theoretifchen Vorbildung.
Er hatte damals offenbar feinen Vitruvius noch nicht gelefen.
Dagegen übte das Innere der neuen venetianifchen Kirchen