Erstes Kap
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Die griechische Plasti
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Anschauung dem Auge des Künstlers bedeute, vermag freilich luisre in
Schneiderbarbarei verkommenc Modcwelt kaum mehr zu ahnen.
Nur bei den Griechen steht jedes Kulturelement in wiollkommnem
Einklange mit der Natur; nur bei ihnen ist jene Harmonie von Körper
und Geist, aus deren gesundem Boden eine (lurchaus naturgemasse Kunst
erblüht, in welcher die sittlichen Ideale des Volkes eine allgemein ver-
ständliche, allgemein hinreissenile Ausprägung erhalten. Da ist kein
künstlich geschaffener Contlikt, da ist kein natnrfeindliclier Spiri-
tualismus: Alles ist einig, Alles die schöne, reine Blüthe wahrhaft
menschlicher Bildmig und desshalb unvergiinglich und mustergültig für
alle Zeiten. Sind die Werke Indiens und Aegyptens, Assyriens und
Persiens wegen ihrer Befangcnhcit überwiegend Gegenstände eines kultur-
historischen Interesscs, so gewinnt jedes Werk der Griechen eine ewige
sittliche Bedeutung für die ganze Menschheit, weil hier zum ersten Male
ein Volk bei selbständiger Ausbildung und treuem Festhalten seiner
Nationalität sich zu einem Höhepunkte von Freiheit und Bildung auf-
Sehwingt, der es zum Lehrer und unerreichten Vorbilde für alle Zeiten
macht. Das gilt ebenso von der Poesie und Baukunst, wie von der
Plastik der Hellenen. Was aber den sittlichen Kern der griechischen
Schöpfungen ausmacht, das ist jene höchste Forderung schönen Maass-
haltens, die religiöse Scheu vor dem Uebermuth, vor dem Uebersehreiten
des dem Menschen cingebornen Gesetzes. Diese Forderung kann nur
der freie selbstbewusste Mensch, nicht der sklavisch imterdrückte an
sich stellen, und so finden wir, von welcher Seite urir auch den Wunder-
bau griechischer Kunst betrachten, überall die Freiheit als seine Grund-
lage wieder. Aus dieser reinen ethischen Basis entfaltet sich denn jene
Kunst, als deren Merkmale Winekelmann „Stille. und Ruhe, eine edle
Einfalt und stille Grösse" bezeichnet.
Wir begreifen nun, warum erst bei den Griechen eine wahrhafte
innere Geschichte des künstlerischen Schaffens beginnt. Eine Entwick-
lllllg im eigentlichen Sinne giebt es nur da, "wo Freiheit waltet, wo der
Geist nicht in dogmatische Formeln eingezwängt, sondern seinem eigenen
Gesetze hingegeben ist. Auch hier verfahrt von Anbeginn seiner ächt
nationalen Entwicklung der griechische Geist in freier Selbständigkeit.
Schon die ältesten rohen hölzernen Idole der Götter, welche die Sage
nicht selten vom Himmel fallen lasst, und die der kindlich fromme Sinn
mit Kleidern und buntem Schmuck aufputzte, zeigen keine Beziehung zu
fremden Vorbildern. Wir linden bei den Griechen niemals das Streben,
göttliche Begriffe durch monströse Bildungen zu bezeichnen. Der vier-
armige Apollo der Lakcdämonier, die hundertbriistigc Artemis der
Unnnuniscluv
Entwicklung.
Innere
Geschichte.