Zweites Bm
Volkstypus.
Fasst man nun das griechische Volk nach seiner Naturanlage naher
in's Auge, so wird sich ein ganz ähnliches Verhältniss ergeben. In
grauer Vorzeit aus dem Orient eingewandert, müssen die Urahnen der
Hellenen denselben asiatischen Typus der ganzen Gestalt gehabt haben,
dem wir noch jetzt auf den Bildwerken von Ninive und Persepolis be-
gegnen. In den ältesten Erzeugnissen griechischer Kunst, namentlich
auf den alterthümlichen Vasenbildern sieht man wirklich noch nicht das
griechische Profil, sondern die sehr scharf vertretenden Formen asiati-
scher Gesichtsbildung. Selbst in den Aeginctenstatuen ist noch ein Nach-
klang jener älteren Form zu merken, obwohl sich daraus schon der be-
kannte Schnitt des griechischen Profils entfaltet. S0 können wir also in
den Bildwerken die Entwicklung der hellenischen Rage, ihr Fortschreiten
aus dem allgemeinen asiatischen Völkertggpus zu dein besondern griechi-
schen Volkschzirakter erkennen. Der stärkste Faktor bei dieser Um-
gcstaltung muss in der Naturbeschaffenheit (iricchenlands und seines
Klimas gesucht werden. Fern von tropischer Uebergewalt hat der milde
hcllenische Himmel alle Kulturkeimc des hochbegabten Stammes geweckt,
gefördert und zur Freiheit und edlen Menschlichkeit erhoben. Das Land
selbst, hafenreich, mit tief eingeschnittenen Buchten, durch zahlreiche
Gebirgszüge in viele kleine selbständige Gebiete gegliedert, gewährt in
seinen Umrissen und den Profilen seiner Berge ein wahres Muster plasti-
scher Schönheit. Derselbe plastische Charakter drückt sich auch im
Wesen des griechischen Volkes aus. Das Auge, welches beständig von
klarer, durchsichtiger Atmosphäre mnflossen ist und alle Formen bis in
weite Ferne hin in ihrer ganzen Deutlichkeit und Schärfe, in dem un-
endlichen Reiz ihrer leisesten Linienspiele stets in sich saugt, udrd den
höchsten Grad von Empfänglichkeit für die plastische Schönheit er--
halten. .
Schönheit
des Volkes.
Und dieses für Schönheit so empfängliche Auge des griechischen
Künstlers fand als nächsten Gegenstand der Betrachtung den von der
Natur edel angelegten, durch Gunst des Klimzfs entwickelten, durch
(lymnastik gestählten, durch freie Sitte geadelten griechischen Menschen-
schlag. Hier war Nichts mehr von dem gedrückten, befangeneil Wesen
der Orientalen; Nichts mehr von der geistlosen Monotonie ihrer Köpfe,
der eckigen, unfreien Bewegung ihrer Glieder: sondern in hoher Harmo-
nie leuchtete aus einem edlen freien Körper eine edelgeborne, freie
Seele hervor. Dazu kam die griechische T recht, die ebenso ein Resultat
schöner Sitte war, den Körper zeigte, indem sie ihn verhüllte, in freiem
Wurf seine Bewegungen ausklingen liess und wie ein zweiter bcseelter
Körper das Wesen ihres Trägers deutlich verkündete. Was eine solche