Erstes Kapitel.
Die griechische Plastik.
Ursprung und Wesen.
orientalischen Kunst total verschieden, ja ihr geradezu ßlügßä-Zitgßnsetzt
ist. Dennoch fehlt es nicht an Solchen, die eine völlige Ilerleituug der
jllIlgQTCD Kunst aus ihren älteren orientalischen Vorg'ä11gern1ncn be-
haupten zu dürfen glauben. Wollen wir das Körnchen Wahrheit, das
in dieser Annahme steckt, zu Tage bringen, so müssen wir scharf unter-
scheiden. Bei näherer Betrachtung werden wir dann sehen, dass-zu-
nächst von einer Einwirkung Aegyptens keine sichere Spur nachzuweisen
ist. Was dagegen die alte babylonisch-assyrischc Kunst betrifft, so kann
kein Zweifel walten, dass die Griechen in der ältesten Zeit bedeutende
Einflüsse (lersclben erfahren haben. In wiefern die Kultur des heroi-
schen Zeitalters von jener asiatischen abhängig war, haben Wir im
letzten Kapitel unsres ersten Buches gesehen. Aber wir wissen auch,
dass mit der dorischen Wanderung ein neuer Geist in das Griechenvolk
dringt, der einen Bruch mit dem Orient und ein selbständiges Hervor-
treten des eigentlich griechischen Wesens in Staatsform, VLeben und
Kunst hervorruft. Was man nun in der früheren Epoche vom Orient ge-
lernt und gewonnen hatte: nicht bloss vielerlei technische Fertigkeiten,
namentlich die Bearbeitung der Metalle, sondern auch den äusseren
Charakter, selbst die künstlerische Form der Darstellungen, das halt
man fest; aber aus der noch stark orientalischen Form ringt ein neuer,
ein acht hellenischcr Geist zu Tage, der bald die verbrauchten über-
lieferten Typen "als eine lästige Fessel sprengt und sich eine in-allen
Zügen eigenthtimliche, selbständige Formensprache schafft. Das Ver-
haltniss der griechischen Kunst zur orientalischen hat eine unverkenn-
bare Achnlichkeit mit dem der mittelalterlichen Kunst zur antiken. Auch
die Kunst des christlichen Mittelalters war ursprünglich eine abgeleitete;
sie empfing ihre Formen durchgängig von der alten römischen Kunst.
Aber auch hier brachte im Laufe der Zeit der neue Geist es zu einem
Brüche mit der Tradition, oder vielmehr da solche Verhältnisse
allmählich "wachsen, nicht plötzlich durch einen vereinzelten Willensakt
geschaffen werden es vollzog sich eine langsame, aber unaufhaltbar
fmtschrcitencle Umwandlung, auch diesmal am mächtigsten gefördert
durch eine Art von Völkerwanderung, die Kreuzzüge, und was schliess-
lieh als Resultat dieser Kultnrbewegung hervorging, die vollendete
gothische Kunst, hatte ebenso vollständig die letzten Spuren antiken
Eindusses abgestreift, wie die vollendete griechische Kunst die ihrer
asiatischen Vorgängerin. So ist also in der Kunst der Ilelliuicn nicht
etwa die Vollendung der orientalischen, sondern im strengsten Sinne des
Wortes die Begründung einer durchaus neuen, selbständigen Kunst zu
erkennen.