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Viertes Buch.
Beihülfe die Sculptur nicht entbehren kann, sofern sie ihre knappe styl-
gemasse Ausdrucksweise nicht mit der geschwatzigen malerisch-land-
schaftlichen vertauschen soll, mancher Schössling mit so viel innerlicher
Lebenskraft ausstatten lassen, dass er nicht den Eindruck des fremdartig
Frostigen macht, sondern uns unmittelbar nah und verwandt erscheint.
Wer versteht nicht sofort das Symbol des sterbenden Löwen auf dem
Denkmal zu Luzern! Wie hätte der Gedanke einfacher, ergreifender
ausgedrückt werden sollen! Und solcher Art könnte man Manches an-
führen, sowohl aus den Werken Thorwaldsens und Rauchs als auch ihrer
geistesverwandten Nachfolger.
Dass aus dem Studium der Antike eine lauternde, belebende
Kraft in jene Genreplastik hinüberdringt, Welche die einfache Darstellung
anmuthiger Natur zur Aufgabe hat, braucht kaum hervorgehoben zu
werden. Wohl aber darf man das Eine nicht vergessen, dass gegen
jede Art von Uebertreibting, von Ausschreiten ins üppig Sinnliche und
gar Lüsterne die Antike wieder den festen Damm bildet, seit wir die
keusehen Schöpfungen acht griechischer Kunst uns unverlierbar zu eigen
gemacht haben. Aber auch jenes Gebiet der Plastik, das diesen Gränzen
am fernsten zu liegen scheint, die Schilderung des individuellen Lebens,
bedarf eines starken Stromes antiken Schönheitsgefithles, um den auf
diesen Wegen liegenden Gefahren des einseitig Charakteristischen, niedrig
Realistischen zu entgehen. Je sicherer diesen Schöpfungen die lebendigste
Sympathie des Volkes zu Theil wird, um so wichtiger ist es, ihnen eine
würdige stylvolle Fassung zu geben. Wer sehen will, wie nichts von
dem schärfsten Ausdruck des Sonderlebens geopfert und doch das Ganze
in jene grosse Auffassung getaucht ist, welche wir immer wieder aus den
Alten schöpfen, und die darauf hinausgeht, das Wesentliche, ewig Gül-
tige aus der verwirrenden Masse des Zufälligen zu lösen und zu einem
charaktervollen Gebilde auszuprägen, der betrachte die Standbilder
Rauchs und Rietschels.
Haben wir nun den Ueberbliek über den Stoifkreis der heutigen
Plastik gehalten, so fragt sich schliesslich: ist es unserer Zeit nicht
gegeben, eine äehte Idealkunst hervorzntreiben und damit also auch den
höchsten, ewigen Gedanken Ausdruck zu leihen? Ist unsere Zeit so
ideenarm, oder sind ihre Ideen so widerspänstiger Natur, dass sie sich
der plastischen Verklärung entziehen? Gewiss nicht. Wohl aber sehen
wir die Völker, heut in einem Zustand gewaltigen Ringens, dessen Ziel
dahin geht, die fast überall noch lastenden Fesseln vergangener Zeiten,
welche eine freie, menschenwürdige Entwicklung hemmen, abzustreifen,
aus dem frisch vordringenden Leben der Gegenwart die faulenden Ueber-