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Viertes Buch.
Lorenzo
Bernini.
Formen ihre Zuflucht nehmen. Wollte aber die Plastik, die auf solchem
Gebiete mit dem Schmelz der Farbe, den geheimnissrollen Reizen des
Helldunkels, die ihre Rivalin ins Feld führte, nicht Schritt halten konnte,
irgendwie es der Malerei gleich thun, so musste sie sich rückhaltlos in
denselben Naturalismus der Formen, in dieselben kühnen Affekte hinein-
stürzen, mit denen die Malerei so grosse Wirkungen erreichte. Und das
that die Bildnerei ohne die mindesten Skrupel, und an diesem Mangel
eines plastischen Gewissens ging ihre ganze Herrlichkeit zu Grunde.
Wohl brachte sie in diesem Taumel des Draiufloskomponirens eine Un-
masse von Prunkwerken hervor; wohl wurden ungeheure Mittel ver-
schwendet und tüchtige Talente in Bewegung gesetzt: aber eine solche
innerliche Hohlheit stiert uns mit entseeltem Auge aus der Mehrzahl dieser
Werke an, dass wir uns mit Widerwillen, oft mit Ekel von ihnen ab-
wenden. Nur die Hauptpunkte in dieser etwa anderthalb Jahrhunderte
langen Krankheitsgeschichte der Sculptur hebe ich hier hervor. Wer
Eingehenderes verlangt, den verweise ich auf Jac. Burckhardt, der in
seinem Cicerone mit tief eindringender Sonde diese pathologischen Par-
tieen der Kunstgeschichte untersucht und dargelegt hat.
Lorenzo Bernini von Neapel (1598_1680) ist der reichbegabte
Künstler, der diesen Styl ausgebildet und über ein halbes Jahrhundert
hindurch in einer grossen Anzahl architektonischer und plastischer Werke
zur Geltung gebracht hat. Seit Michelangelo war kein Meister mehr auf-
getreten, der so vollständig und so lange seine ganze Zeit beherrschte.
Unter dem Pontifikate von sechs Papsten, besonders unter dem des bau-
lustigen Urban VIIL, dessen Liebling er war, füllte er Rom mit seinen
Werken an imd prägte der Stadt im Wesentlichen den Stempel seiner-
Kunst auf. Von Ludwig XIV. wurde er nach Frankreich berufen und mit
fürstlichen Ehren empfangen, um seinen Rath wegen der llailptfacade des
Louvre zu geben. Unbestqitten dvard er als der erste Künstler seiner Zeit
angesehen, "Wenn wirfine Auswahl seiner bczeichnendsten Werke be-
trachten, so erhalten wir einen Durchschnitt dessen, was die ganze Epoche
in Itafien leistete. i
Vor Allem ist bei Bernini schon die Behandlung des Körpers meist
so widernajarlichhtheils prahleriseh mit aufgedunsenen Muskeln, theils
widerlich lüsterheinhibertriebener Weichheit, dass die manierirtesten Ani
tiken dagegen keusch und einfach erscheinen. Schon in seinem Jugend-
werk: Apollo, der die plötzlich zum Lorbeerbaum verwandelte Daphne
verfolgt {Villa Borghese zu Rom), zeigt sich neben der vollständigen
VerkennungQder Granzen des plastischen Gebietes, diese raftinirte Rich-
tung. Den Gipfel derselben erreicht er aber erst in seinem Raube der