Viertes Kapitel.
Die Bildnerei von
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mussten. Die Malerei warf sich zuerst in dies neue Darstellungsgebiet
und brachte, getragen von dem Aufschwung jener kirchlichen Agitation,
eine neue grosse Blüthe hervor. Ihren Anfang nahm dieselbe in Italien, aber
ihren Höhenpunkt fand sie in den Niederlanden und in Spanien, wo
Rubens und Mnrillo sie zu voller berauschender Pracht entfalteten.
Neue B]
der Mah
Was man jetzt vor Allein von der Kunst verlangte, waren Effekt
und Affekt um jeden Preis. Das Eine wurde durch das Andere erreicht.
Eine leidenschaftliche Aufregung pulsirt in dem ganzen künstlerischen
Schaffen; die ideale Ruhe der früheren Altarbilder genügte nicht mehr.
Sehnsüchtige Andaehtsglilt, stürmisches Entzücken, schwärmerische Ek-
stase, das sind die Ziele der neuen Kunst. Nicht mehr die feierliche
Würde der Heiligen, sondern die nervösen Visionen verzüekter Mönche
sind ihr Ideal. Daneben labt sie sich an erschütternden Schilderungen von
Martyrien, und alles das sucht sie so wirksam und packend wie möglich
hinzustellen. Es ist die handgreifliehe Tendenz, die kirchlich-politische,
welche sich der Kunst bemachtigt hat und sie ganz für ihre Zwecke aus-
beutet. Dass unter solchen Verhältnissen die Malerei doch eine neue
wahrhaft künstlerische,Bedeutung erreicht, liegt vor Allem an den grossen
Meistern, die jetzt sich ihr zuwenden, mehr aber noch daran, dass die
Stiinmilng der Zeit ihr in seltenem Maasse förderlich war. Sie bedurfte
kräftiger, begeisternder Impulse, und wenn diese auch nicht mehr von
der Reinheit der früheren Zeit waren, und also ailch nicht ebenso reine
Werke wie die früheren hervorrufen konnten: an nachhaltiger Energie
und Sehwungkraft fehlte es ihnen wenigstens nicht.
Derselbe Geist aber, welcher der Malerei eine achte Bedeutung ein-
hauehte, brachte der Bildnerei das Verderben. Wenn irgend eine Epoche,
so ist diese ein Beweis dafür, dass die grössten Talente, wenn sie einer
verkehrten Zeitströmung anheimfallen, eben durch ihre Begabung nur um
so gewisser zu Grunde gehen. Was in günstigen Zeiten sie zu Sternen
am Kunsthimmel erheben würde, das lässt sie jetzt zu Irrlichtern herab-
sinken, deren Glanz sein trügerisches Dasein nur den Miasmeil verdankt.
Diese auffallende 'I'hatsache erscheint für den ersten Blick unerklärlich; doch
lässt sie sich aus dem verschiedenen Wesen beider Künste vvqhl begreifen.
Die Plastik hatte schon früher mit der Malerei gGWV8lIt8lf6l'lSUl](l dadurch,
namentlich im Relief, manche. unverkennbare Trübung ihres eigentlichen
Wesens erlitten. Damals aber war die Malerei selbst noch voll architek-
tonischer Strenge und plastischen Formenadels. Jetzt, wo es ihr auf
schlagende Wirkung, auf effektvolle Schilderung leidenschaftlicher Seelen-
bewegung ankam, musste sie tief ins Naturalistisehe hinabsteigen, zu
freieren Anordnungen, zu frappanterelnmit der Wirklichkeit W0iiPlfPl'll(l6ll
Verderben
der Plastik