Viertes Kapitel.
Die Bil
nerei
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ten Auffassung, vor Allem der edlen, schlichten Darstellung der Bildnisse,
erhält sich bis in die ersten Deccnnien des 17. Jahrhunderts hinein. S0-
wohl in der Sammlung des Louvre, wie unter den Statuen im Schloss zu
Versai lle s trifft man noch manches würdevolle und feine Werk aus (liesel-
spiiteren Zeit. Nur der Ausdruck wahrer Frömmigkeit scheint den Künst-
lern immer schwerer zu werden, ohne Zweifel weil sie ihn auch bei ihren
Originalen nicht mehr fanden. An die Stelle wirklicher Andacht tritt immer
mehr die blosse Attitüde, wie z. B. bei den lllarmorstatuen Michel de Mon-
tigny's und seiner Gemalin (1610) in der Krypta der Kathedrale zu
B0 urges. Ganz schön und innig dagegen in der Kathedrale zu Di j o n
noch um 1613 die Marmorfiguren eines Ehepaares de la Berchere.
Wie eine Ausnahme unter den Werken dieserZeit stehen die umfang-
reichen Reliefs da, mit welchen man den früher (S. 618) begonnenen
Schmuck der Chorsc-hranken in der Kathedrale zu Chartres vollendet
hat. Es sind die östlicheren Theile, und sie knüpfen mit den Scenen aus
dem Leiden Christi an das Frühere an. Der neuere Meister (man liest
T. Boudin. 161 1) hat sich möglichst dem Styl des älteren angeschlossen
und recht tüchtige Arbeiten geliefert, welche wenig von den Manieren
seiner Zeit verrathen. S0 stellt er die Maria mit dem Leichnam Christi,
bis auf die zu demonstrative Handbewegung, edel und schön dar. etwa
wie ein van Dyck. Die Kreuzaufrichtnng ist geschickt in das Langfeld
hineineomponirt und voll innigen Ausdrucks, namentlich in der Gruppe
der Frauen. Dann folgen die Dornenkrönung mit einem würdevollen
Christus, die Geisseluilg, Christus vor Pilatus, der Judaskuss, das Gebet
am Oelberg, wo der sinkende Erlöser durch zwei rafaclisch schöne Engel
unterstützt wird; weiter (ler Einzug in Jerusalem, die Heilung des Blin-
den, die sehr lebendige Scene mit der lilhebrecherin. Hier findet sich die
Jahrzahl 1612, und die Arbeiten werden von da ab etwas ausserlicher.
Die Reihenfolge geht bis zu Christi Taufe und zum Kindermord herab,
letzteres eine leidenschaftliche, wild affcktirte Darstellung. Das architek-
tonisch Dekorative in diesen Theilen ist in der Gesammtanlage gothisirend,
in den Ornamenten, besonders an den unteren Flächen eine überaus feine
und edle Frührenaissance, die schwerlich später als 1550 datirt.
S0 besitzt denn zum ersten Male seit dem 13. Jzihrhundert Frankreich
in dieser Epoche wieder eine glänzende, schwungvoll betriebene Plastik.
Wenn dieselbe jetzt auch minder ursprünglich ist als jene frühere, wenn
sie mehr durch frelnde Vorbilder hervorgerufen wird, so bildet sie doch
sich zu nationaler Selbständigkeit aus. Der ruhige Adel, die schlichte
Stille der Portraitbilder, und mehr noch die Feinheit der Reliefbehand-
lung sind ganz originale Verdienste dieser anziehenden Schule, deren Hei-
R r-li e fs
Ch a rtre