G72
Viertes Buch.
voll vor sich Hiublickende, in tiefes Sinnen Verlorne, dem seit
alter Zeit der bezeichnende Name „il pensiero" gegeben wurde, ist
nicht wie bisher angenommen Lorenzo, sondern der schwermüthige
Giuliano, Herzog von Nemours, dessen Geschick über die ganze Ge-
stalt jenen unbeschreiblich melancholischen Zauber auszugiessen scheint.
Lorenzo dagegen, der tapfere und kühne Herzog von Urbino, halt den
Kommandostab ruhig in den Händen auf dem Schoos und scheint mit dem
Auge des Feldherrn um sich zu blicken. Vergleicht man in Gedanken
die Bilder mit dem Geschiehtlichen beider Persönlichkeiten, so ist nicht
zu leugnen, dass eine grossartige und ergreifende ideale Charakteristik
in diesen Gestalten lebt. Das Einfache der Behandlung, das Freie und
Leichte der Stellung, besonders die ausdrucksvolle Haltung und Bildung
der Hände, das Alles wirkt zu diesem bedeutsamen Eindruck zusammen.
Wie Heroen, so erscheinen Beide über das gemein Menschliche hinaus-
gehoben.
Die sitzende Madonna, welche man zwischen den von Schülerhand
nach Skizzen des Meisters ausgeführten Heiligen Cosmas und Damianus
in derselben Kapelle sieht"), ist zwar unvollendet geblieben, aber dennoch
spricht sie vernehmlicher und gewaltiger zum Beschauer, als die meisten
Darstellungen desselben Gegenstandes. Michelangelo hat wieder eine
Erhabenheit des Eindrucks erreicht, _die einen tragischen Grundton
hat, und es ist gewiss bezeichnend, dass er in seinen Hauptdarstellungen
der Madonna stets die ernste oder gar schmerzliche Saite anschlägt. Auch
diese Madonna sitzt wie traumverloren da, das eine Knie über das andere
geschlagen, mit der Rechten sich rückwärts auf ihrem Sitze stützend.
Rittlings auf ihrem Schoosse und nach vorn gewendet sitzt der Kleine.
Plötzlich überkommt ihn das Verlangen nach der Mutterbrust, und indem
er gewaltsam den Oberkörper herumdreht, mit der Linken sich an der
Schulter der Mutter festhält und mit der Rechten ihre Brust sucht, giebt
er sich mit Eifer seinem kindlichen Genusse hin. Gewiss leidet auch
Die Madonna
in S.Lorenz0.
Der Ad:
dies Motiv an Absichtlichkeit und die Bewegung ist so gezwungen wie
möglich: dennoch sind die Linien im Aufbau des Ganzen, in der Uebcr-
schneidung der Theile so herrlich, und es schwebt ein so tiefer fast
tragischer Hauch über der Gruppe, dass sie trotz jener Mängel und trotz
ihres unfertigen Zustandes einen unauslösehlicheil Eindruck macht.
Zu den Werken der späteren Lebenszeit Michelangelds gehört vor
Allem die Marmorstatne des todt. hiugesunkenen Adonis in den Uffizien.
Diese drei Statuen waren ursprünglich für ein Grabmal
bestimmt. Vasari, ed. Lszmonn. XIII. S. 29. Note.
des Lorenzo Magnifico