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Viertes Buch.
äeht plastisch gedacht, mit dem feinsten Liniengefühl aufgebaut; die For-
men des nackten Christuskörpers so maassvoll und bescheiden behandelt,
dass der geistige Gehalt in den herrlichen Köpfen zur vollen Wirkung
kommt. Vor Allem aber gipfelt das Ganze in dem edel verklärten Schmer-
zensantlitz der Mutter.
Madonna zu
Bniggc.
David
Flure:
Ein Nachklang dieser tragischen Empfindung schwebt über der
schönen Gruppe der Maria mit dem Kinde, in der Liebfrauenkirehe zu
Brügge. Ziemlich in Lebensgrösse sitzt die h. Jungfrau da, die rechte
Hand ruht mit einem Buche auf dem Schoossc, und die Linke halt das
ganz nackte, zwischen ihren Füssen stehende Kind, während der Kleine
seine Linke Hand um den linken Schenkel der Mutter schlingt. Die ganze
Anordnung ist ebenso schön, einfach und grossartig wie der Ausdruck
von ergreifender Tiefe. Der Kopf der Mutter ist schmal, mit etwas ein-
gefallenen Wangen; die nach der rechten Seite blickenden Augen sind
halbgeschlossen, wie wenn Gram sie umiiorte. Tritt man weiter zurück,
so wirkt gerade diese Behandlung der Augen ergreifend, weil dann das Hell-
dunkel in den Augenhöhlen den geistigsten Eindruck hervorbringt. Auch
der Kleine scheint mit halbgeötfrleten Augen in sehmerzliehes Nachsinnen
versunken, als sei er von dem Gram der Mutter kindlich mit ergriiien. Je
mehr bei längerer Betrachtung der Eindruck wächst, um so deutlicher er-
kennt man in diesem edlen Frauenkopfe den tiefen Seelenschmerz, die
göttliche Bekümmerniss über die Sünde und die Flut der Leiden, welche
durch dieselbe über ihr Kind hereinbreehen wird. Das grossartig Ernste,
von allem Herkömmlichen Abweichende der Auffassung zeigt schon hier
den Meister ganz auf der Höhe seiner Selbständigkeitf").
Die nächsten Auftrage, die Michelangelo zu Theil wurden, beweisen
zur Genüge, welches Vertrauen seine Zeitgenossen schon damals in seine
Kraft setzten. Im Jahre 1501 übertrug der Kardinal Piccololnini ihm
fünfzehn Marmorbilder für den Dom von Siena; von denen indess, wie es
scheint, keine einzige fertig werden sollte. In demselben Jahre überliess
die Domverwaltung seiner Vaterstadtihm einen ganz verhauenen Marmor-
bloek, aus welchem er sich anheischig machte, einen kolossalen David zu
meissehi. Und wirklich gelang ihm das schwierige Werk, und die Arbeit
ging so rasch von Statten, dass am 25. Januar 1504 eine Commission
der ersten Florentiner Künstler, darunter Meister wie Andrea Sansovino
Ä") H. Grimm, Michelangelo I. S. 459. Note 21, gebührt das Verdienst, die ge-
schichtliche Ilerkunft der Madonna von Brügge und ihre Identität mit der von Con-
divi und Vasari erwähnten irrthümlieh als Bronzewerk bezeichneten Madonna nach-
gewiesen zu haben. Ein llandriseher Knufherr Pierre Moseron ("Moseherone")
bestellte das Werk, unter welchem sein Grabstein noch jetzt zu sehen ist.