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Viertes Buch.
in der ächten Tragödie. Und was schliesslich immer von Neuem uns sym-
pathisch hinzieht, _selbst zu -jenen unter seinen Gestalten, die uns zuerst
abgestossen haben, das ist: sie sind dem Besten in uns, dem Streben
nach allem Hohen, Idealen innig wahlverwandt; sie sind, so erhaben immer
über menschliches Maass, Fleisch von unsrem Fleisch, Geist von unsrem
Geist. Wir ahnen noch mehr in ihnen, als was wir in ihnen schauen,
und darin beruht das Geheimnissvolle der modernen Subjektivität. In so-
fern nimmt denn auch Michelangelo das Streben Donatello's auf höherer
Stufe wieder auf. Jener verschmähte die Schönheit, um der Fülle be-
wegten ausseren Lebens nachzugehen; dieser verachtet sie, weil sie der
Entfaltung des inncrlichsten Gedankenlebens im Wege steht.
Wir haben durch chronologische Betrachtimg seiner plastischen Werke
den Entwicklimgsgang Michelangelols uns vor Augen zu bringen. Von
Anfang an war für ihn von grösster Bedeutung, dass er noch als jugend-
licher Schüler des Malers Domenico Ghirlandajo dem kimstliebenden Lo-
renzo de' Medici empfohlen wurde, als dieser sich nach talentvollen Jüng-
lingen erkundigte, um sie für die Plastik ausbilden zu lassen. Lorcnzo
hatte bei seinem Palaste in den Gärten von San Marco eine Sammlung an-
tiker Sculpturiverke aufgestellt, nach welcher Donatello's Schüler Bcrtoldo
die Studien der jungen Bildhauer leitete. So leidenschaftlich crgriifMichel-
angelo die neue Thätigkeit rmd so rasch entwickelte er sich, dass er schon
in seinem siebzehnten Jahre auf des gelehrten Poliziano Anregung in einem
Marmorrelief Herkules Kampf mit den Kentauren darstellte. Die Arbeit,
welche noch im Pal. Buonarroti zu Florenz aufbewahrt wird f), verrath
durch das Feuer und den Geist der Composition, durch die wundersame
Lebendigkeit der Gruppen und Bewegrmgen die ungewöhnliche Begabung
des jugendlichen Meisters, der sich freilich dabei einer gewissen Ueber-
fülhlng in der Anordnung um so weniger enthalten konnte, als die antik-
römischen Reliefs nach dieser Seite hin Alles zu erlauben schienen. Un-
gefahr derselben Zeit (um 1492) wird das ebendort befindliche Flachrelief
einer Madonna, die ihrem Kinde die Brust giebt, angehören, ein Werk,
das sich durch seine ideale Schönheit von den gleichzeitigen Schöpfungen
der übrigen florentiner Bildhauer merklich unterscheidet. Von der vier
Ellen hohen Herkulesstatue, die er 1492 arbeitete und welche in den Be-
sitz Franz I. von Frankreich kam, ist dagegen jede Spur verloren.
Nach Vertreibung der Medici (8. November 1494) ging Michelangelo
nach Bologna, wo er für das Grab des h. Dominicus in S.Domenico den
einen der kandelaberhaltenden Engel (links vom Beschauer) arbeitete.
a4) Vergl-
die Ab!
in Cicugn m'a II.