Drittes Kapitel.
Italienische Bildnerei im 16.
Jahrhundert.
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Um der Gewalt jener tiefen und im letzten Grunde kaum bestimmba-
ren Ideen den angemessenen Ausdruck zu verschaffen, fangt nun Michel-
angelo bald an, die menschliche Gestalt seine souveräne Willkür empfin-
den zu lassen. Der Grundgedanke der gesammtcn Bewegung, mühsam
geboren aus inneren Conflikten, erlangt so ausschliessliehe Geltung, dass
die Gesetze des körperlichen Organismus sich ihm beugen müssen. S0
beginnt denn die Herrschaft des Motivs über die Form. Ob eine
Bewegung natürlich, ungezwungen sei, das gilt dem Meister gleich, wenn
sie nur das ergreifend ausdrückt, was seiner Seele vorsehwebt. Schon
früh an jenem Tafelgemälde der Madonna in der Tribuna der Uffizien
bricht diese Richtung sich Bahn, und wirft die Tradition so rücksichtslos
bei Seite, dass dann freilich ein unbefangen reiner Eindruck nicht mehr
möglich ist. Aber auch damit begnügt er sich nicht. Seinen Absichten
zu Gefallen modelt er nach Belieben die menschliche Gestalt, bildet ge-
wisse Theile übertrieben mächtig ins Kolossale, steigert die Kraft der
Muskeln und vernachlässigt wieder andere Particen, wie z. B. fast immer
den Hinterkopf seiner Statuen, so dass er dem menschlichen Körper neue
Gesetze vorschreibt. So gelangt er oft (lahin, dass, wie Burekhardt
treffend sagt, manche seiner Gestalten auf den ersten Eindruck nicht ein
erhöhtes Menschliches, sondern ein gedämpftes Ungeheures geben. Nun
sind an den grössten Meisterwerken, selbst bei den Alten, oft gewisse
kleine absichtliche Fehler gerade Das, worauf die geistige Wirkung des
Ganzen beruht; aber Michelangelo geht in dieser poetischen Licenz nicht
selten zu weit und xierfallt ins Uebertriebene und dadurch ins Unschöne.
Iudess darf man wohl daran erinnern, dass die treffliehsten Meisterwerke
der Antike, die man damals kannte, ein Torso und ein Laokoon, die
Neigung zu schwülstiger Muskulatur gleichsam zu sanktioniren schienen.
Auf diesem Wege gelangt endlich derselbe Meister, der den höchsten Be-
griff von der Schönheit der menschlichen Gestalt besessen hatte, zu einer
Auffassung der Form, die nicht selten der Schönheit gleichsam geilissent-
lich aus dem Wege geht und lieber herb und abstossend als Weich und an-
ziehend sein will. In Wahrheit sind die Gedanken Michelangelds so stolzer
Art, dass sie sich nicht durch Anmuth der Formen den Sinnen einsehmei-
cheln mögen. Sie hüllen sich spröde ein, als schämten sie sich, durch
das Medium der Sinnlichkeit auf den Geist wirken zu müssen. Aber wenn
auch oft schroff und iuischön, nie sind seine- Gestalten kleinlich oder ge-
wöhnlich. In kühnen Formen, die mit grossen Linien gezeichnet und in
unübcrtreiflich breiter iuid freier Behandlung durchgeführt sind, stellt er
eine höhere Art von Wesen vor uns hin, in deren Gegenwart alles Nie-
drige von uns zibfällt, und unser Gefühl dieselbe Läuterung erfährt, wie