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Viertes Buch.
die Sibyllen und Propheten der sixtinisehen Kapelle, sind plastische Ge-
danken, und zwar von den höchsten, deren die neuere Kunst fähig war.
Um der menschlichen Gestalt völlig Herr zu werden, gab der junge Michel-
angelo sich lange Jahre hindurch einem anatomischen Studium hin, wie
es so erschöpfend kein zweiter moderner Meister betrieben hat. Für ihn
zum ersten Male seit den Zeiten der Alten war die menschliche Gestalt in
voller Herrlichkeit wieder um ihrer selbst willen da.
Sie in allen erdenk-
liehen Stellungen und Verkürzungen zur Geltung zu bringen, sie so gross
UJJÖ. frei in der breitesten Formbehandlung vorzuführen wie die Alten, das
war recht eigentlich das Ziel seines Strebens. Um in solchem Glück zu
schwelgen, stellte er sich stets neue Probleme, suchte stets neue Schwie-
rigkeiten auf, schaltete er zuletzt in kühner Willkür mit den Bedingungen
des menschlichen Organismus.
Was konnte solchem titanischen Ringen der Stoifkreis seinerZeit bie-
ten? Die christlichen Gestalten und der geistige Inhalt, der sie beseelt,
waren am Wenigsten geeignet, sich einer Kunst zu fügen, deren Zielpunkt
die Verherrlichung des menschlichen Körpers in seiner reinen Schönheit
war. Die antike Mythologie war abgestorben, und wenn auch bisweilen
eine mythologische Aufgabe sich dar-bot, so war die Gelegenheit zu selten,
und der Gegenstand, bei aller Begeisterung für das Alterthum, doch dem
modernen subjektiven Bewusstsein zu fern gerückt. Noch weiter lag das
Geschichtliche mit seinen scharf umrissenen individuellen Zügen dem Ge-
nius Michelangelds. Es blieb also nichts übrig, als das Reich der Alle;
gorie, eine bedenkliche Gattung, deren schwankende Gestalten indess
noch am ersten den subjektiven Gedanken des Meisters sich als Träger
darboten. Damit war aber zugleich der Willkür in gefährlicher Weise
Thor und Thür geötfnet. Zum ersten Male tritt durch Michelangelo die
rücksichtslose Subjektivität hcrrschend in die Kunstwelt. Sie erkennt
keine objektiven Gestalten in ihrem absoluten Rechte an; sie lasst sich
durch keine Tradition mehr leiten. Sie vergräbt sich in ihre innersten
Inspirationen und ringt mit Anstrengung danach, ihnen zur grossartigsten
Erscheinung zu verhelfen. Das gesammte Schaffen Michelangelds ist ein
unablässiger Kampf erhabenster Ideen, die aus der wunderbaren Tiefe
seines Seelenlebens zu Tage streben, und deren lürscheinung daher alle
Spuren dieser gewaltigen inneren Erschütterungen an der Stirn tragt. Vor
diesen Werken giebt es kein ruhiges Geniessen. Sie reissen uns unwider-
stehlich in ihr leidenschaftliches Leben hinein und machen uns, wir mögen
wollen oder nicht, zu Genossen ihrer tragischen Geschicke. Das ist der
Eindruck, welchen auch die Zeitgenossen meinen, wenn sie von dem
Furchtbaren ("terribile") der Werke des Meisters sprechen.