Zweites Kapitel.
Nordische Bildnerei von 1450
1550.
621
sind die Köpfe von hoherEncrgie desAusdrucks. Den Abschluss dieser
grossen Arbeiten bilden endlich im nördlichen Querarm die vier schon
ziemlich manierirten Darstellungen am Grabmal des Meisters Jehan Wyts,
welche das "Atrium" (Austreibung der Verkäufer aus dem Tempel), „Ta-
bernaeulum," "Sancta" und "Sancta Sanctorum" schildern.
Fasst man diesen beispiellos reichen Cyklus von Arbeiten zusammen,
so muss die Energie in Erstaunen setzen, mit welcher hier das beginnende
'16. Jahrhundert mit Dem zu wetteifern sucht, was das dreizehnte am
Aeusseren der Kathedrale geschaffen hatte. Der Gegensatz der realistisch-
historischen und der symbolisch-allegorischen Atuiassting ist selten so
nahe und in so bedeutenden Beispielen zusammengedrangt. Die stylisti-
sehen Vorzüge der älteren und die naturalistischen Verdienste der jüngeren
Kunst treten in ganzer Bestimmtheit hervor. Dass nach der Anschauung
seiner Zeitgenossen der Meister des 16. Jahrhunderts den Sieg behauptete,
leidet wohl keinen Zweifel. Wir freilich erkennen auf den ersten Blick,
wie viel an Schönheit und Adel, an Klarheit der Reliefbehandlung, mit
einem Wort an ächtem Stylgefühl der neuere Meister aufgab, um dem
Durste nach vollen Zügen aus der Wirklichkeit um jeden Preis zu
Resultat.
genügen.
Von verwandter Art scheint der bildnerisehe Schmuck an den Chor-
sehrailken der Kathedrale von Alby im südlichen Frankreich zu sein,
während die drei in Alabaster ausgeführten Reliefs der Verkündigung,
Anbetung der Könige und Geisselung Christi in der Kirche zu Roseoff
an der Nordküste der Bretagne einen späten, liebenswürdigen Nachzügler
des gothischen Styles verrathen. Aber selbst wo die architektonischen
Formen der zierlichen Frührenaissance angehören, behalten die kirchlichen
Sculpturen oft die alte Naivetät der Auffassung. So die Reliefs an der
reizenden Kanzel von S. Nicolas in Troyes, nach 1525 in Holz ausge-
führt und in der ganzen Anlage an die berühmte Kanzel von S. Croee zu
Florenz (S. 503) erinnernd." Sie erzählen in guter lebendiger Anordnung
die Geschichte des heiligen Kirchenpatroncs und verbinden antikisircnde
Formen mit Innigkeit der Empfindung und Schärfe der Chamkteristik.
Aehnlieh zierliche Reliefsceilcn aus dem Leben Christi sieht man am Lett-
ner "der unfern Troyes gelegenen Kirche von Villeniaur. Endlich ist
noch eine grosse bemalte Steingruppe der Grablegung in der Krypta der
Kathedrale von Bourges vom Jahre 1545 zu nennen. Christus, würdig
aufgefasst, aber mit dem vollen naturalistisch durchgeführten Ausdruck
des Leidens, wird von Joseph von Arimathia und Nikodemus gehalten.
Dahinter stehen Johannes, der die ohninächtige Mutter auffängt, und Mag-
dalena mit dem Salböl, nebenan einige andere Figuren und der Stifter.