Zweites Kapitel.
Nordische Bildncrei von
1550.
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zenden Tabernakeln, die mit Fialen und geschweiften Bögen gekrönt sind;
die Figuren zum Theil ganz freistehend, die Gruppen malerisch vertieft,
doch nicht überfüllt und meistens gut angeordnet. Einige Seenen aus der
Geschichte Christi verrathen eine ungeschickte Hand durch ihre steifen
Bewegungen und die breiten stumpfnasigen Köpfe mit scharfen Backen-
knochen und blödem Äusdruek. Dagegen spricht sich der Realismus der
Zeit beim Tode, der Grablegung und der Krönung hiaria in wohl motivir-
ten, bei allem Reichthnm doch nicht knitterigen Gewändern und in a11-
muthig edlen Köpfen wohlthuend aus. Besonders ergreifend und bedeu-
tend sind freilich auch diese Werke nicht. Den letzteren entsprechen an
der Südseite acht Scenen aus dem Leben Maria, zum Theil gemüthlich
naiv und in anziehend weichem Styl, mehrfach jedoch stark restaurirt.
Später, realistischer und im Ganzen werthvoller sind die höchst um-
fangreichen Bildwerke an den Chorschranken der Kathedrale zu Amiens,
von allen ähnlichen Werken wohl die luxuriösesten. An der Nordseite
sieht man in ausgedehnten Reliefs mit beigeschriebenen naiven französi-
schen Versent) und der Jahrzahl 1531 die Geschichte des Täufers Johan-
nes. Es sind, umfasst von reichen Spitzbogennisehen, überragt von zier-
lichen Maasswerken, vier grosse Bilder in stark erhobener Darstellung,
perspektivisch vertieft in malerischer Anordnung, Alles trefflich bemalt
und vergoldet. Die Compositionen ausserst lebendig und doch klar, die
ausdrucksvollen Köpfe individuell durchgebildet, die Gewänder der-Neben-
iigtiren im glitnzendsten Zeitkostüm, die Körper tüchtig entwickelt, auch
das Nackte mit Verständniss ausgeführt, gehören diese Arbeiten zu den
werthvollsten Leistungen, welche die kirchliche Plastik dieser Epoche in
Frankreichhervorgebracht. Zuerst ist dargestellt, wie Johannes Christum
sieht und ihn der staunenden Menge zeigt; dann Johannes Predigt in der
Wüste, und die Taufe Christi, diese besonders schön und einfach ange-
ordnet; endlich nochmals Johannes als Bussprediger, wobei die zuhörende
Menge recht lebendig geschildert wird. Die zweite (östliche) Abtheilting
umfasst wieder vier Scencn: die Gefangennahme des h. Johannes; das im
Zeitkostiim genrcartig durchgeführte Festmahl, wo Herodias das Haupt
des, Busspredigers verlangt; seine Enthauptung und zuletzt abermals eine
Tafelscene, wo das abgeschlagene Haupt auf den Tisch gesetzt wird, He-
rodias ihm die Augen aussticht, ihre '1'0chter darob in Ohnmacht fallt und
von einem artigen jungen Manne aufgefangen wird, während ein Page
1') Z. Beisp.: "Sainct J chan voyant Jhesus vers luy mareher
Vecy le agneau de dicu (dict yl) tres eher.
Interrogue Sainct Jehan quy il estoit,
Dict est ce voix quy au desert preschoit." etc.
Chor-
schranken
zu Amiens.
Nnrdseih