Zweites Kapitel.
Nordische Bildncrci w
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sehe Details bereichert, hinzu. Alles das ist aber nicht blos geistsprühend
und phantasievoll erfunden, sondern auch mit weiser Berücksichtigung des
künstlerischen Ztveckes und des bestimmten Materiales i") angelegt, und
mit einer jubelnden Lust in verselnvenderieliem Gedankenreiehthum durch-
geführt, dass jeder Tadel schweigen und sich vor der Ueberlegenheit
einer solchen wie aus einem Guss in die Form gcflossenen Schöpfung
beugen muss. Wie. sinnreich schon, das Ganze auf die festen Schalen
von Schnecken zu stellen! wie mannigfach sind die reichen Basen der
Pfeiler, Säulen und Kandelaber, die zahlreichen Kapitale und Konsolen
gebildet! und mit welcher künstlerischen Ueberlegung sind bei alledem die
architektonischen Hauptlinien festgehalten, so dass derselbe Gedanke sieh
in allen Regenbogenfarben der Phantasie spiegelt.
Und doch gipfelt die Herrlichkeit des Ganzen völlig erst in dem rei-
ehen bildnerischen Schmuck. An den Iilauptstellen, in der Augenhöhe des
Beschauers, erheben sich an den Pfeilern des luftigen Gebäudes die idealen
Pfeiler der Kirche, die Apostel (Blig. 178 bis 189). Es sind schlanke Gestal-
ten in vollendeter Entwicklung defkörperliehen Erscheinung, theils mit mil-
den theilsmit grossartigen Köpfen, ruhig in N aehsinnen versunken wie Judas,
'I'haddäus und 'l'ho1nas, theils in wehmiitliigexn Ausdruck wie Bartholoniäus
und Johannes, oder in erregterBewegung einander gegenüber tretend wie
Philippus und Paulus, Simon und Andreas. Die Gewänder verbinden den
idealen Schwung der besten gothisehen lüpoehe mit der reichen Mannig-
faltigheit der Antike und dem vollen Lebensgefühl der neuen Zeit. Diese
unübertroffen edlen Gestalten haben die nächste Verwandtschaft mit den
Figuren Ghibertfs, welchem Vischer in Ileinheit und Adel derEmpiindung;
überhaupt am nächsten steht. Nur mit dem Unterschiede, dass bei Ghi-
berti die Antike, bei Viseher das Mittelalter starker hervorklingt. Letzteres
(lrselwint um so klarer, als in mehreren dieser (lestalten, wie im Matthäus
und (lem jüngeren Jakobus sogar eine leise Naelnvirkung der eonventio-
nellen Haltung gothisehei- Figuren unverkennbar ist. Mit klarem Bewusst-
sein hat der grosse lllPlStOF die Gebrechen des Realismus seiner Zeit erkannt
und sich von der Befangenheit seiner früheren Werke vollkommen befreit.
Es kann kaum zweifelhaft sein, dass der erste Anstoss dazu, sowie zur
Aufnahme von Renaissanee-lilotiven ihm aus Italien gekommen ist. Aber
er wurde (ladureh nicht zum Nachahmer, vielmehr wusste er die volks-
Gerade diesen Punkt, gewiss nicht den unwichtigsten, haben jene klugen
Leute übersehen, die gegen die angebliche ßVilllaiir" des Meisters deklanniren, und
denen er freilich nur dann genügt hätte, wenn er widersinnig genug gewesen wäre,
die "consequenten" Formen irgend eines Steinstyles in sein Erz zu übersetzen.