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Viertes Buch.
Sculpturen Westfalen ist arm an Steinarbeiten dieser Epoche, und selbst an
Westfalen. den zahlreichen, mit grossem Aufwand hergestellten Sakramentsgehausen,
deren eins der grössten und schönsten in der katholischen Pfarrkirche zu
Dortmund, steht der plastische Schmuck an Bedeutung weit hinter dem
Ornamentalen zurück. S0 ist es auch an einem der üppigsten Lettner
vom Anfange des 16. Jahrhunderts, dem sogenannten Apostelgang im
Dom zu Münster. Von Grabsteinen dieser Epoche {möge nur der eines
Grafen Bernhard von Lippe (T 1511) und seiner Gemalin Anna von
Holstein, in der Kirche zu Blomberg genannt werden. Eine recht
würdige Darstellung des Kalvarienberges mit den drei Kreuzen und den
Gestalten der Maria, des Johannes und der Magdalena hat sich an der
Jakobikirche zu Koesfeld erhalten. Vom Jahre 1488 datirt ein schön
empfundenes, auch in den Gewändern edles Relief der Kreuzabnahme
in einer Kapelle von S. Moritz bei Münster.
Etwas reichere Ausbeute gewähren die sächsischen Gegenden, obwohl
von einer durchgreifenden Thatigkeit einheimischer Schulen nicht zu reden
Ei-rm. ist. Zu den früheren Werken gehört in der Severikirchc zu Erfurt das
Altarrelief eines trefflich bewegten S. Michael, sowie die Sculpturen des
Taufsteins vom Jahre 1467. Hier mag denn auch der prächtige Lettner des
Havelberg. Doms zu Havelberg Erwähnung finden, der sich vor späteren Arbeiten
dieser Art durch reichen figürlichen Schmuck auszeichnet. Er enthält in
vielen kräftigen Reliefs die Leidensgesehichte Christi, dazwischen auf Kon-
solen die Statuen der Apostel und der Madonna, letztere noch im idealen
gothischcn Gewandfluss. Aehnliche Reliefs sieht man ebendort an meh-
Halberstadt. reren Altären. An dem glänzenden Lettner des Domes zu Halberstadt,
vom Jahre 1510, überwiegt das dekorative Element. Dagegen sind an
Freiherg. der Kanzel im Dom zu Freib er g, die origineller Weise als riesige Tulpe
gestaltet ist, plastische Arbeiten von selbständigem Werth und energisch
durchgebildetem Styl. Die Treppe wird von einem Gesellen getragen,
welcher alle Zeichen grosser Anstrengung zu erkennen giebt. Unten klet-
tern zwischen den grossen Blumenranken vier reizend naive nackte Engel-
knaben, von denen der eine humoristischer Weise mit einem Bergmamis-
jäckehen bekleidet ist, aus welchem die Flügel possierlich hervor-brechen.
Oben sitzen zwischen den Blumenblättern die grossen Brustbilder der vier
Kirchenvater, deren Köpfe eine meisterhafte Feinheit portraitartigcr
Charakteristik zeigen. Den Sehalldeckel krönt eine schöne Madonna
mit anmuthig bewegtem Kinde. Der Meister dieses ausgezeichneten
Werkes, welches auf schwäbische Einflüsse zu deuten scheint, hockt am
Fusse der Kanzel in ganzer Gestalt, mit ruhiger Zuversicht um sich
schauend.