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Viertes Buch.
der einfacheren Anlage des Gewandes. Die Scenen haben durchweg eine
klare Anordnung und eine lebendig wahre Schilderung. Je weniger die
„sieben Falle" Christi auf dem Gange nach Golgatha dem Bildhauer dank-
bare Motive zur Entfaltung darzubieten scheinen, desto grösser ist die
Kunst des Meisters in Schattirung und dramatischer Steigerung der Scenen.
Wie kummervoll niedergebeugt sehen wir den "Mann der Schmerzen"
auf dem ersten Bilde, wo ihm seine Mutter begegnet! Wie tief ist dort
das Seelenleid der gramgebeugten Maria ausgeadrüclat! Die folgende
Station, wo der unter der Last Zusammengebroehene von den Schergen
empor-gerissen wird, giebt mehr ausserlieh einen Moment empörender Ge-
waltthat. Aber zu den schönsten dieser Darstellungen gehört die dritte,
wo Christus zu den ihn beklagenden Frauen das warnende Wort ausspricht:
„Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern über Euch
und Eure Kinder." Hier ist Alles voll innerer Seelenbcwegrlng, voll dra-
matischen Ausdrucks. Auch die vierte Station, Christi Begegnung mit
Veronika, gehört zu den tief empfundenen. Die. fünfte zeigt wieder das
rohe Treiben und Drängen der-Peiniger; auf der sechsten ist der Er-
barrnenswerthe unter der Last des Kreuzes lang hingestürzt. Die letzte
und zugleich die schönste, ergreifendste zeigt den Leichnam Christi im
Sehoosse der Mutter, die noch einmal einen Kuss auf die verstummten
Lippen drückt, während Maria Jakobibsanft die herabgesnnkene Hand des
Todten ergreift und Magdalena bitterlich weinend sich über den Leichnam
beugt.
Zu diesen Bildern gehört dann auch der Sehadelberg mit den drei
Kreuzen. Christi Körper ist fein gezeichnet, edel in den Formen und im
Ausdruck des Kopfes. Um ihn möglichst ideal zu halten, hat der Künstler
sogar, von seiner gewohnten Auffassung abweichend, ihn ungeivöhnlich
lang und schlank gebildet, ohne jedoch durch elegante Formen dem
geistigen Ausdruck zu schaden. Der Kopf Christi hat nichts Verklärtes,
wohl aber jene Ruhe, in welche ein Nachhall der überstandenen Leiden
hineinklingt. Die beiden Schächer sind lebendig bewegt, der böse fast
in krampfhafter Znckung; die Körper, kürzer, naturalistischer behandelt,
sind doch stylvoll und gleich dem des Erlösers mit Verstandniss durch-
geführt. Von den Gruppen, welche ehemals das Kreuz umstanden, sind
nur Maria und Johannes, und auch diese ziemlich verwittert, übrig ge-
blieben.
Auf diese Arbeiten folgten 1492 die ausgedehnten Reliefs des
Sehreyefsehen Grabmales, Welche in einer Höhe von neun und einer
Länge von 34 Fuss an der nordöstliehen Aussenwand des Chores von
S. Sebald sieh hinziehen: die figurenreiehste und umfassendste Compo-