Zweites Kapitel.
Nordische Bildncrei von 1450
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Mitte einer sieben Fuss hohen und fünf Fuss breiten 'I'afel ist ein Kranz
von wirklichen Rosen im Relief angebracht, der mehr als die obere Hälfte
der Tafel umfasst. Er wird in vier Reihen von kleinen Brustbildern aus-
gefüllt, die sich um ein Antoniuskreuz vertheilen. Oben Gottvater mit
der Taube des h. Geistes, umgeben von Maria mit dem Kinde und von
Engeln; dann Patriarehen und Propheten, Apostel, Kirchenvater, Märtyrer,
zuletzt weibliche Heilige, unter denen Anna mit der kleinen Maria und dem
Christkind auf den Armen nicht fehlt. Was unten noch von der Tafel
übrig" ist, wird durch eine dem Raume geistreich angepasste, höchst
lebendige Darstellung des jüngsten Gerichtes ausgefüllt. Ausserdem be-
steht aber der ganze Rand der Tafel aus einer Fülle von kleinen Reliefs.
Oben sind in einem Streifen die Brustbilder von zwölf Heiligen angebracht.
Die übrigen drei Seiten werden von 23 kleinen Feldern mit miniaturartig
ausgeführten Scenen gebildet, welche die Geschichte der Menschheit und
ihrer Erlösung von der Erschaffung der Eva bis zur Himmelfahrt Christi
und Maria schildern. Nichts geht an Feinheit und Zierlichkeit über diese
Darstellungen. Wenig Werke erreichen aber auch die lebcnsvolle Kraft
der Erzählung, die sich selbst den tragischen Katastrophen gewachsen
zeigt. Als Muster dramatischer Schilderung sind die Vertreibung aus dem
Paradiese, Kains Brudermord, die Gcisselung Christi zu bezeichnen. Da-
gegen ist z. B. Isaaks Opferung minder gelungen, weil Abraham etwas
apathisch, wie das zuweilen den Stossisehen Gestalten begegnet, aus dem
Bilde herausschaut. Dazu kommt eine Klarheit des Reliefstyles, eine
geistreiche Beweglichkeit der Composition, die lebhaft an jene Bildwerke
des englischen Grusses eriimern. Für Veit Stoss zeugt auch Vieles in
der Bildung der bärtigen Männer-köpfe und der feinen Frauengesichter.
Für ihn ferner die eigenthümliehe Art in der Behandlung des Nackten,
namentlich bei dem thronenden Weltrichter die rimdliche (nichts weniger
als schöne oder normale) Form des Brustkasteils. Auch die Gewandung
entspricht im Ganzen seinem Style, obwohl sie klarer und einfacher ist,
als sonst an seinen Nürnberger Arbeiten. Diese Abweichungen erkläre
ich mir daraus, dass ich die Rosenkranztafel als eins seiner frühesten
dortigen Werke betrachte; geschaffen, noch ehe der daselbst herrschende
krause Faltenstyl ihm zur Gewohnheit geworden war; geschaffen im Wett-
eifer mit den ergreifenden Werken Adam Kraffts; geschaffen endlich, um
in Fülle der Gedanken, Anmuth der Form und Meisterschaft zartester
Ausführung den NürnbergerlMitbürgern eine Probe von der 'l'riftigkeit
seines Krakauer Ruhmcs zu geben.
Ein späteres Werk des Meisters ist vielleicht der Ilauptaltai- des
J ohanniskirchleins. Er enthält in bemaltem Schnitzwerk die fast