Zweites Kapitel.
Nordische Bildnerci von 1450
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besteht aus einem von zierlichen Baldachinen gekrönten Schrein, der die
überlebensgrossen Holzstatncn der Maria mit dem Kinde, zwischen einem
h. Papst und Bischof und den lilärtyrern Stephanus und Laurentius ent-
hält. Diese Figuren sind grossartig entworfen und mit kühner Meister-
schaft durchgeführt. liIaria_ zeigt einen vollen, runden Kopf mit offenem
Ausdruck und schön gtrsclnvungenen Lippen. Reizend bewegt ist das
Christuskind, würdeitoll die beiden Kirehenfürsten, und herrliche jugend-
liche Köpfe mit krauscin, meisterlich behandeltem Lockenhaar zeigen die
beiden ltlärtyrer. Die Gewandung hat wohl scharfe Brüche in der Weise,
wie wir sie bei Riemensehneider finden werden, aber die llauptmasscn
sind in grossem Styl angeordnet. Die Altarstaffel ist (lurch reich ver-
sehlnngenes gothisehes Laubwerk in drei Nischen getheilt, die mit sieben
lebxensgrossen Brustbildern ausgefüllt sind. In der Mitte ein Eccehomo
von höchst edlem Ausdruck, von Maria und Johannes an beiden Händen
gehalten: eine Scene von ergreifender Tiefe des Gefühls. Besonders fein
empfunden ist der Zug, wie die schmerzerfüllte Mutter auch den Ellnbogen
des Sohnes in zarter Sorgfalt unterstützt. Daneben die vier grossen
Kirchenvater in verschiedenen Stellungen tiefen Nachsinnens, das Kinn
auf die Hand lehnend oder das gedankensehuterc Haupt senkend: Portrait-
köpfe von individuellem Leben und feiner Durchführung. Ueber den
Baldaehinen des Sehreins, umrahmt von Laubwerk, sieht man zwei
Sibyllen und zwei weibliche Heilige, oben in der luftig ciurehbrocheiien
Bekrönung Christus am Kreuz, an dessen Stamm llizigdalena kniet, da-
neben auf Konsolen Maria und Johannes, und noch höher, abermals
unter Baldachinen, mehrere Statuetten von Heiligen.
Das ist nur der mittlere Theil. Dazu kommen noch die jetzt seitwärts
aufgestellten Flügel mit Reliefdarstellungen, die an künstlerischem Werthe
die übrigen Werke wohl noch übertreffen. In wohldurchdaehten Oompo-
sitionen, die nur massig auf die malerischen Tendenzen der Zeit eingehen,
ist rechts der Tod Maria und die Ausgiessung des h. Geistes in kräftigem
Relief geschildert. Beim Tode der Maria drängen die Apostel sich in
grosser Bewegung heran, ihr den letzten Beistand der Kirche zu bringen.
Johannes reicht ihr mit jenem naiven Anachronismus, der eine der
stärksten Seiten der mittelalterlichen Kunst, die geweihte Kerze; Petrus
kommt mit dem Weihwedel, ein dritter mit dem Vileihrauchfass, wieder
Andere knieen und beten für die scheidende Seele. Die Köpfe sind
prächtig charakterisirt, mit feinen Bortraitzügen, geistreich behandeltem
Haar und lebendigem Ausdruck der Emptintlung. Das Körperliche ist
trefflich verstanden, wie man z. B. an der Unterseite der Füsse bei den
Knieentlcn sieht, wo der gewissenhafte Naturalismus jedes Itältchen