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Viertes Buch.
jetzt diese Kunst in lebendigem Fortschritt. Der Altar enthält den Stamm-
baum Christi oder die Wurzel J esse. Unten liegt der Patriareh, in tiefen
Schlaf versunken, den. langbärtigen Kopf auf die I4Ia11d gestützt, eine
würdevolle Gestalt. Im Schrein darüber sitzen Maria und Anna, die das
Ohristuskind gehen lehren. Neben ihnen jederseits eine schöne junge
Frau mit einem Kinde, also die sogenannte "heilige Sippsehaift Christi,"
ein damals oft behandelter Gegenstand. Es sind ganz reizende Köpfchen
und anmuthige Gestalten, wie man sie noch heut in Gmünd auffallend
häufig antriift. Die feinen Gesichter mit dem edlen Oval sind nur etwas
indifferent im Ausdruck, die Irliguren nicht ohne Befangenheit in der Be-
ivegung, dafür aber in prächtigem, grossgezeiehnetem Gewandwurf, der
nur irvenig durch eckige Falten unterbrochen wird. Rings sind kleine
Brustbilder von Propheten und Königen angeordnet, lebendig aber mit-
unter etwas demonstrativ bewegt, die sich oben in dem zierlichen Ilanken-
Werk fortsetzen, wo sie keck aus Blumenkelchen hervorsehauen. Zivischen
ihnen in der Mitte ein ganz vorzüglicher Christus am Kreuz, trefflich im
Nackten und edel im Ausdruck; ganz oben krönt feierlich thronend Gott-
vater das Praehtwerk.
Nicht minder edel spiegelt sich der Sehönheitssinn dieser Schule in
dem etwa gleichzeitigen Schnitzaltar der ersten südlichen Chorkapelle
derselben Kirche. Der Leichnam Christi wird von Johannes gehalten
und von Maria umfasst, während Magdalena das Bein unterstützt und
höchst zart die herabsinkende Hand des Herrn zu ergreifen sucht. Ein
eigenthümlicher Adel der Empfindung bewahrt diese Darstellung bei aller
Tiefe des Ausdrucks vor unschönen Uebertreibungeii. Die Köpfe und
Hände sind vorzüglich durchgeführt, Christus voll Würde, nur die Genran-
der zeigen einen minder reinen Styl. Der Altar in der folgenden Kapelle
derselben Seite enthält gleichfalls ein grosses Schnitzwverk: die ehrwür-
dige Gestalt des h. Sebald als Pilger mit langem Bart, in der Hand ein
Kirchenmodell, schreitet in grossartiger Bewegung einher. Sein Gewand
ist frei in breiten Massen angelegt, der Kopf von portraitartigem Gepräge.
Unten sieht man knieende Donatoren, oben zwei hübsche sehntebenrlc
Irlngel. Der obere Aufsatz hat die Darstellung einer schönen weiblichen
Ileiligeil, welcher zwei derbe Henker einen Nagel in dic Brust zu treiben
suchen. Wie lange übrigens hier die Lust an der Sehnitzarbeit verhielt,
beweisen in derselben Kirche die Cherstühle, eine stattliche Renaissance-
Arbcit vom Ende des 16. Jahrhunderts. Sie werden jedcrseits bekrönt
durch zwölf Doppelstatuen, etwa von halber Lebensgrösse, Apostel,
Patriarchen und Propheten darstellend. Origineller Weise ist es jedesmal
dieselbe Figur, die nach innen und nach aussen angebracht ist, so dass