Zweites Kapitel.
Nordische Bildnerei
von 1450
1550.
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die hier selbständiger als irgendwo an ähnlichen Arbeiten zur Anwendung
kommt. Der Künstler giebt in geschlossenen Reihen drei Oyklen von
Persönlichkeiten des Heidenthumes, Judenthumes und Christenthumes,
denen zum Theil eine prophetische Beziehung auf Christus beigelegt wird.
Mit Rücksicht auf die Plätze, welche die beiden Geschlechter im Kirchen-
schitfe einnehmen, ist auch in diesen Bildnissen die Nordseite den Män-
nern, die Südseite den Frauen eingeräumt. Die untere Reihe, aus Büsten
bestehend, die an den Seitenbrüstungen angebracht sind, ist dem Heiden-
thum gewidmet. Links sieht man sieben Gestalten von weisen Heiden:
Pythagoras, Cicero, Terenz, Ptolemäus, Seneca, Quintiliaal und Secundus;
rechts ebenso viele Sibyllen; daran schliesst sich einerseits das Brustbild
des Meisters, andererseits das seiner Frau, wie angegeben wird und mir
nicht unwahrscheinlich ist. Die zweite Reihe befindet sich in den Rück-
wänden der Stühle und enthält links in stark erhobener Arbeit die Bmst-
bilder von Propheten und Vorfahren Christi, rechts von frommen Frauen
des alten Testamentes. Die oberste Reihenfolge endlich, aus kräftig ge-
arbeiteten Brustbildern in den Giebelfeldern der Krönung bestehend, ist
dem Christenthum gewidmet. Sie zeigt links die Figuren der Apostel
und anderer ausgezeichneter Heiligen, rechts weibliche Gestalten, darunter
Magdalena, ltlartlm, Elisabeth, Walburgis und Andere.
Dem sinnigen Gedankengang entspricht die Ausführung. Der Meister
verfügt über eine Feinheit der Charakteristik, die ihm sowohl im Anmu-
thigen, wie im Würdevollen zu Gebote steht. Am vorzüglichsten sind die
beiden unteren Reihen. Da sie ganz nahe betrachtet werden, so gab er
ihnen die zarteste Durchführung, die sich namentlich in den edlen Köpfen
und den zart ausgearbeiteten Händen erkennen lasst. An letzteren sieht
man ein gediegenes anatomisches Verstandniss ohne Harte und Scharfe;
ebenso frei in schönem Lockenfall ist das Haar behandelt. Die Sibyllen
zeigen anmuthige Köpfe mit feinem Lächeln, das bisweilen von stiller
Itlclaneholie umtlort ist. Das Gesicht hat ein weiches Oval, die Nase im
Profil edle, kaum merklich gebogene Linien, der kleine Mund ist wie zum
Sprechen geöffnet. Schlank und fein sind die IYIande, mit schmalen zart-
gebildeten Fingern: kurz, in Allem waltet ein Schönheitssinn, der wenige
Schöpfungen des Jahrhunderts so rein verklärt. Die Bildwerke der beiden
oberen Reihen sind nicht minder lebensvoll, doch etwas breiter, nicht so
fein detaillirend behandelt. An den oberen Gestalten zeigen Lippen und
Augen noch Spuren von Bemalung, letztere mit dunklem Stern auf weissem
Grund. Ausserdem ist nur an den architektonischen Gliedern ein beschei-
dener Zusatz von Vergoldung zu bemerken. Auch Humoristisches ist an
passendem Ort eingestreut und mit freier Laune behandelt.
Liibke, Gesch. der Plastik. 34