Zweites Kapitel.
Nordische Bildnerei
von 1450
1500.
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Hervortreten der Horentiner Meister an Feinheit und fester Richtung viel
gewann, so wurde in Deutschland durch die Selbständigkeit vieler ein-
zelner Kreise eine Anzahl von Schulen hervorgerufen, die sich durch
individuelle Auffassung von einander unterscheiden. Da aber das künst-
lerische Schaffen andrerseits ein zünftig eingeschränktes war und die
Meister oft nur in dem Zweige der Bildnerei arbeiten durften, der ihrer
Genossenschaft zustand, so ergiebt sich daraus die weitere Nothwendiglaeit,
die verschiedenen technischen Gebiete gesondert zu betrachten. Denn
jene grössere Freiheit der Auffassung hatte ihr Gegengewicht an den
engeren Schranken, die in technischer Hinsicht dem Schaden gezogen
waren. In doppelter Weise ein bezcichnender Gegensatz zur Plastik
Italiens.
Holzschnitzerei.
Die
Dass die Holzschnitzereiü) die Lieblingsteehnik der deutschen Sculp-
tur dieses Zeitraums ist, bezeichnet stärker als irgend eine andere That-
sache das Streben, die Bildnerei von der Architektur zu befreien und sie
selbständig auf eigene Füsse zu stellen. Früher spielte sie eine bescheidene
Rolle, denn so lange Architektur und Plastik innig verbunden Hand in
Hand gehen, findet letztere im Steinmaterial das wichtigste Feld der
Thätigkeit. Was wollten neben dem Reichthum von Steinsculpturen in
früherer Zeit die wenigen Holzarbeiten sagen! Wohl gab es in diesem
Material einzelne Statuengruppen, wohl liebte man kolossale Kruzifixe
über dem Triumphbogen der Kirchen anzubringen; wohl kommen auch
-im 1-11. Jahrhundert oder im Anfange des folgenden hier und da Holz-
schnitzaltäre vor, wie jener prächtige in der Kirche zu Tribsees in
Pommern. Aber erst seit der Mitte des '15. Jahrhunderts nimmt die Holz-
sehnitzerei in Deutschland einen solchen Aufschwung, dass ihre Werke
an Masse, und in gewissem Sinne auch an Bedeutung die Arbeiten in
Stein und Erz überragen. An Bedeutung; denn nirgends treten die Ten-
denzen der Zeit so entschieden heraus wie gerade in jenen Schnitzereien.
Wie in Italien die Erzarbeit, so stellt in Deutschland die Holzseulptur den
realistischen Drang der Zeit am schärfsten und einseitigsten dar: jene,
weil sie einer schneidend herben Formbezeiehnung entgegenkam; diese,
weil sie die malerische Richtung vorzüglich begünstigte.
Die Holzsehnitzerei ist nämlich grossentheils mit der Thatigkeit des
Vurwiegen
der Holz-
Sßlllptll r.
Vergl. den Aufsatz von Scham, zur Gesch. der Bildschnitzerei in Deutsch].
Kunstb], 1536, Nr, 2, Viele werthvolle Beobachtungen auch in llfazzyerüs genug
citirtem; aber zu wenig gelesenem Buche: Kunstw. und Künstler in Deutschl. 2Bde.
Leipzig 1843. 184a.