522
Viertes Buch.
deutschen Wesens, die in den Tiefen des eignen Gemüthes wurzelnde Kraft
individueller Auffassung aufs Schönste bezeugen.
Aber eine grosse Anzahl dieser Werke besitzt auch ein absolutes
künstlerisches Verdienst. lNicht immer werden wir durch herbe, unschöne
Formen verletzt; vielmehr gelingt es manchemder bekannten und unbe-
kannten Meister, eine seltene Lauterkeit imd Durchbildung zu erreichen.
Und das hat hier um so höheren Werth, als das gemianische Streben nach
individueller Freiheit mit besonderer Energie in diesen Arbeiten nach Aus-
druck ringt. In Italien hatten die Künstler sich weit mehr einer allge-
meineren Idealform genähert, waren nur vereinzelt und vorübergehend bei
kirchlichen Gebilden zu einer portraitartigen Auffassung gelangt. Im
Norden ruht der Schwerpunkt der neuen Kunst auf dem siegreichen Be-
tonen des Individuellen. Dies führte eine ungleich grössere Mannichfal-
tigkeit der Richtungen mit sich. Jeder Meister hat, namentlich für Ma-
donnen und andere Frauenköpfe, sein eigenes Schönheitsideal, in welchem
wir noch jetzt den schmerzlich süssen Reflex subjektiver Herzenscrlcbnisse
ahnen können. Diese Richtung musste als natürlicher Rückschlag im Nor-
den sich um so scharfer durchsetzen, als man gerade hier in der vorigen
Epoche am hingebendsten die idealistischen Typen der gothischen Kunst
in Sculptur und Malerei gepflegt hatte. Man _war nun der ewig gleich-
förmigen Schönheit im Wurf der Falten, des stillen monotonen Lächelns
der Gesichter herzlich satt, und wollte lieber die Wirklichkeit mit allen
ihren Härten, mit ihren eckigen Gestalten, ihren vielfach gebrochenen Ge-
wändern, als jene leer und allgemein gewordene Schönheit. Aber selbst
auf diesem Umwege durch die strenge Schule des Realismus verloren nur
die ganz Einseitigen oder Unbedeutenden das höchste Ziel aus den Augen.
Andere wussten mit dem Feuer der tiefsten Empfindung den spröden Stoff
der Wirklichkeit in Fluss zu bringen und ihn in eine Form zu giessen, in
welcher das individuell Bedingte den Stempel der Schönheit und die Weihe
seelenvoller Innigkeit empfing.
Deutschland.
Wir haben unsre Umschau mit den Arbeiten Deutschlands zu be-
ginnen, ireil alle übrigen nordischen Länder in der Plastik sich während
dieser Epoche nur untergeordnet verhalten. Deutschland allein kann sich
darin an Fülle und Bedeutinig der Denkmäler mit Italien messen. Was
ihm an harmonischer Schönheit abgeht, ersetzt es reichlich durch die
grössere Innerlichkeit der Empfindung und (lureh die Vielseitigkeit der
Bestrebungen. "Wenn die italienische Plastik durch das (lominirende