Zweites Kapitel.
Nordische Bildnerei von 1450
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Gebärden die liebsten. Sie folgte auch darin einem Verlangen der Zeit,
und sie entsprach den ästhetischen Bedürfnissen ihrer Auftraggeber am
sichersten, wenn sie den leidenden Christus mit den hässlichsten, strolch-
haftesten, widerwärtigsten Fratzen von Henkern umringte. Man muss
sich ins Gedaehtniss rufen, dass die grelle Zusammenstellung des Gemei-
nen mit dem Hohen in den beliebten Mysterienspielen noch viel weiter
ging und jeden kühnen Griff der bildenden Kunst nach dieser Seite von
vorn herein entschuldigte. Ich erinnere nur an das von Mone veröffent-
lichte Spiel von der Auferstehung Christi, wo der Gang der frommen
Frauen zum Salbenhandler, um den Herrn einzubalsamiren, zur Einschal-
tung der gröbsten untiatigsten Scenen benutzt ist, die mit Behagen aus-
gesponnen und durch die plattesten Gemeinheiten gewürzt werden. Offen-
bar zur köstlichen Erbauung für das gesammte Publikum, von dem wohl
Niemand Anstoss daran nahm, dass mitten in die Ekelworte, mit welchen
der Knecht Rubin und die sauberen Gesellen Lasterbalk und Pnsterbalk
untereinander und mit dem Weibe des Händlers verkehren, die Gesänge
der Engel und die Klagen der frommen Frauen hineintönen. Wenn man
in diesem und in ähnlichen „geistliehen Spielen" beobachtet, was damals
die Gemüthei- der Menschen ertrugen, so urird man die gesammte Malerei
und Bildnerei der Epoche in ihren hässlichsten Fratzen noch maassvoll
finden.
Legt man nun für die Würdigung der plastischen Werke den Maass-
stab an, der sich aus den voranfgeschickten Betrachtungen ergiebt, so
muss die Fülle von Kraft, Tiefe, Innerlichkeit, ja im Einzelnen auch von
Schönheit in Erstaunen setzen, die man in den Schöpfungen dieser Epoche
antritft. Selbst wo die Form knorrig und schroff ist, wird man durch die
Wahrheit der Empfindung, durch die Ehrlichkeit und Energie dieser an-
spruchslosen Arbeiten von meist namenlosen Meistern wohlthuend berührt.
Ihre Verfertiger fühlten sich wohl selten als Künstler, und auch ihre Um-
gebung nahm sie für das, was sie in. (ler bürgerlichen Ordnung des dama-
ligen Lebens waren: für ehrsame Itlandwerkslneister. Niemand "verzeich-
nete ihre Namen; keine höhere Bildung, nahm sie auf ihre Flügel; kein
Vasari verfasste ihre Lebensgeschichten. Aber nur um so sympathischer
berührt es uns, wie sie mit aller Anstrengung nach dem Höchsten gerungen.
Die Theilnahme utäehst, wenn man vor Allem in Deutschland, das während
dieser Epoche im Norden die Bildnerei mit dem glänzendsten Erfolge be-
treibt, die fast unabsehbare Fülle des trotz aller Zerstörungen noch Vor-
handenen kennen lernt; wenn man, von Ort zu Ort, von Gau zu Gau wan-
dernd, eine Manilichfaltigkeit der Richtungen, eine Rastlosigläeit und
Frische des Sghaifeng beobachtet, welche den charakterxtollen Grnndzng
Würdigung
der plast.
Werke.