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Viertes Buch.
wandiiguren, hebt also die grossen Hauptformen nicht auf, durch welche
die Bezeichnung des körperlichen Organismus möglich wird. In der nor-
dischen Kunst verschwindet dagegen meistens die menschliche Gestalt so
vollständig unter einer barocken Faltengebung, die nicht den Bewegungen
des Körpers, sondern lediglich den Launen des Künstlers gehorcht, dass
von einem klaren Gefühl für das organische Leben nicht die Rede ist.
Wenn dergleichen schon bei der Malerei unerfrculich wirkt, doch immer
noch durch den Zauber der Farbe gemildert, ja wohl gar zu einem reiche-
ren coloristischen Spiel ausgebeutet wird, so ist es in der Plastik, deren
Basis eine deutliche Formbezeichnung bleiben muss, fast unerträglich.
Und doch wird dieser Uebelstand auch hier gedämpft durch den
vollen F arbenglanz, den man den meisten Werken der Bildnerei zutheilt,
und durch den sie ohnehin auch von dieser Seite der Malerei sich nähern.
Denn im Norden fehlt der weisse Marmor, der in Italien die reinere Aus-
bildung der Form so sehr begünstigte. Man ist auf grobkörnigeren Sand-
oder Kalkstein angewiesen, mehr aber noch imd mit bezeichnender Vor-
liebe auf das derbe Eichen- oder Lindenholz, aus dessen Blöcken das kühn
gehandhabte Messer des Bildschnitzers eine Welt von reichen Altarwerken,
Chorstühlen, Schreinen u. dergl. zu gestalten weiss. Die Mehrzahl dieser
Werke von Stein und von Holz erhalten ihre vollständige Bemalung und
wetteifern an Goldglanz und Farbenschimmer mit den gemalten Tafeln,
die sich mit ihnen oft zu grossen Gesammtcompositionezl verbinden. So
strebt die nordische Plastik von allen Seiten in's Malerische hinein.
Fragen wir nach dem Stolfgebiet dieser Kunst, so folgt sie darin
wie die italienische dem Zuge der Zeit, dass sie das Historische in den
Vordergrund stellt. Und zwar wetteifort sie mit ihrer südlichen Rivalin
im Ringen nach möglichst lebendiger Erzählung, möglichst naturtreuer
Schilderung. Ja im Drange nach dramatischer Entwicklung der Scenen
überbietet sie jene um ein Erhebliches. Man (larf sogar, abgesehen von
namhaften Ausnahmen, die italienische Plastik dieser Epoche mehr
episch, die nordische mehr dramatisch gesinnt nennen. Wenn daher
die italienische sich viel mit den Legenden der Lokalheiligeil zu schaiTen
macht, so ist das weit weniger Sache der nordischen. Sie hält sich, wie
sie denn ausschliesslieher kirchlich-religiös ist, am meisten an das Leben
Christi, und auch von diesem wählt sie mit Vorliebe die Passionsgesehichte;
In solchenScenen kann sie ihrem Hange nach leidenschaftlicher Schil-
derung vollauf genügen und sie thut es mit unerschöptlicher Erfindungs-
kraft. Weder im Charakter ihrer Gestalten, noch im Ausdruck der Em-
pfindungen sucht sie dabei das Edlcre, Geläuterte: vielmehr Sind ihr die
derbsten Charakterfiguren, die heftigsten Motive, die rüekhaltlosesten