Zweites Kapitel.
Nordische Bildnerei von 1450
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vermochten, das beweist noch jetzt so manches liebliche Madchengesicht,
so mancher energische Charakterkopf auf Gemälden, in Holzschnitzereien
und in Stcinarbeiten. Aber die Plastik bedarf mehr als des Kopfes; sie
muss auf eine harmonische Aulfassung des ganzen Körpers bedacht_
sein. Nun liegt es aber am Allerwenigsten im germanischen Volks-
charakter, die ganze Gestalt zum rhythmisch bewegten Träger der Empfin-
dung zu machen. Mag die Bervegnng der Seele im feucht schimmernden
oder strahlenden Auge, im lächelnden oder schmerzlich zuckenden Mund,
im gesteigerten Inearnat des Antlitzes sich hervor-drängen wir vermö-
gen ihr dort nicht zu wehren: aber die übrigen Glieder sollen gleichsam
nicht wissen, was die Seele bewegt und im Gesichte sich spiegelt. Die
Heiligkeit der Empfindung erschiene uns profanirt, wenn sie den ganzen
Körper zum Ausdruck mit fortrisse und sich imGestus, in der Stellung
und leidenschaftlichen Bewegung überall äiussern wollte. Die lebensvolle
Rhythmik, mit der sich bei den romanischen Nationen jede innere Wallung
in der ganzen Gestalt offenbart, würde uns als etwas Thcatralisehes
erscheinen, und würde es fünuns auch sein. Damit ist aber ausge-
sprochen, wie vrenig der Bildhauer bei uns an höchsten plastischen
Motiven findet.
Man wird nach alledem sich nicht darüber wumlern, dass die nor-
dische Sculptur in dieser Epoche eine vorwiegend malerische Tendenz
verfolgt. Kommt ja selbst in den italienischen Bildwerken seit Ghiberti
eine verwandte Richtung zur Herrschaft. Und doch ist das Malerische
der nordischen Sculptur noch wesentlich xierschieden von dem der Italie-
ner. Ghiberti imd die, welche ihm folgen, geben zwar im Ganzen male-
rische Compositionen, aber die einzelnen Gestalten sind bei ihnen meist
von acht plastischer Schönheit, entfalten ihre Formen rein und scharf
nach den Bedingungen der wahren Seulptur. Anders die weit überwie-
gende Mehrzahl der nordischen Werke. In ihnen ist durch die gesteigerte
Bedeutung des Kopfes, durch die bunte Tracht das Malerische auch für
die einzelnen Figuren so stark betont, dass selten eine stylvoll durch-
gebildete Gestalt gefunden wird. Während bei den Italienern, namentlich
in den toskanischen Schulen, die Malerei sich der Plastik nähert, geht im
Norden die Plastik umgekehrt in die Malerei über. Ein wichtiges Symptom
dieses Verhältnisses sind die geknittertcn, eckig gebrochenen Gewänder,
welche zuerst, wenngleich noch maassvoll, auf den Gemälden der Eyclis
auftreten, dann aber in immer grösserer Buntheit und Ucberladung sich
über alle Werke der Malerei und der Bildnerei ausbreiten. Wohl kommt
ein übertriebenes Faltenwesen auch in der italienischen Kunst vor; aber
dort beruht es auf der Nachahmung der überreichen, spiitrömisehen Ge-
M alerische
Haltung der
Plastik.