Zweites Kapitel.
Nordische Bildnerci von
1550.
517
das Spiegelbild ihrer Zeit geben, so unerbittlich sie die heiligen Gestalten
des alten wie des neuen Testamentes in die Kleider und die Umgebung
des 15. Jahrhunderts stecken, doch in der Architektur die gothischen
Formen versclnnähen und fast immer zu denen des romanischen Styles
greifen. In der That fand die neue Plastik, lebenswahr und selbst extrem
realistisch, wie sie im Laufe des ganzen Jahrhunderts auftrat, keinen Platz
im Systeme der Gothik. Denn sobald die Gestalten eine naturwahre
körperliche Durchbildimg erhielten, machten sie das Recht auf freiere Be-
wegung geltend, und dafür war in den engen Hohlkehlen, an den be-
schränkten Bogenfeldern der Portale, zwischen den kilappen Säulen-
stellungen der Baldachine kein Raum.
Als nun trotzdem der Zug nach realistischer Treue, der aus den Comllgigmisß
Tlafelbildern schon geraume Zeit siegreich hervorstrahlte, auch die Plastik derselben-
mit fortriss, mussten ihre Werke sich wohl oder übel mit dem System der
herrschenden Architektur abzuiinden suchen. Aber dies konnte zu keinem
reinen Style, zu keiner vollen Befriedigung führen. Bis gegen die Mitte -
des 16. Jahrhunderts beherrscht die gothische Bauweise fast aussehliesslieh
den ganzen Norden. Während dieser langen Epoche liegt die Plastik
mit ihr im Kampfe. Die Concessionen, welche die Gothik machen konnte,
waren zwar hinreichend, ihr eignes Gesetz aufzuloclzrarn, aber nicht ge-
nügend, die gerechten Anforderungen der Plastik zu erfüllen. Wie eine
mündig gewordene Tochter, die fortwährend dem strengen Hausgesetze
sich unterwerfen soll, dem sie längst entwachsen ist, windet und müht
sich die Bildnerei, um trotzdem ihr neues Lebensgefühl zum Ausdruck zu
bringen. Ist es zu verwundern, dass die Heftigkeit und die Härten dieses
Kampfes sieh in allen ihren Zügen ausprägcn? dass es ihr selten gelingt,
zu einem reinen Ausdruck der Schönheit durchzudringen? Eine weitere
Folge ist, dass sie sich der Tyrannei der Architektur nach Krätften zu ent-
ziehen sucht. S0 bildet sie denn selbständig das Altarbild, das Grabs
denkmal für ihre Zwecke um und verdrängt beim ersteren die Malerei,
beim anderen die Baukunst zum guten Theil aus ihren Positionen. Die
Architektur hatte für solche Werke fortan nur einen leichten Rahmen zu
liefern; aber sie vermochte ihnen keine durchgreifende Gliederung mehr
zu geben.
Erwägt man dies Alles, so kann kein Zweifel bleiben, woran es folge"
eigentlich im letzten Grunde der nordischen Kunst gebraeh, um im An- ihn)"
schluss an die neuen Ideen sich zu einer harmonischen Gesammtkunst
zu entfalten, wie sie Italien von 1420 bis 1520 im höchsten Sinne errang.
Es fehlte der belebende, umgestaltende Pliniiuss der Antike, es fehlte die
neue Architektur, welche den beiden bildenden Künsten in ihrer fort-