ZWEITES
KAPITEL.
Nordische
Bildnerei
VOII
1450
bis
1550.
Erste Spuren
des
Realismus.
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der Archi
tektu 1'.
Auch. im Norden hatte sich schon seit Beginn des 15. Jahrhunderts
der Geist der neuen Zeit, der Sinn für die Wirklichkeit, der Realismus
geregt; ja in manchen Acusserungen des künstlerischen Lebens war er
dort zeitiger siegreich hervorgetreten als selbst in Italien. Sahen wir
doch schon am Ausgange des 14. Jahrhunderts Olaux Sluter in Dijon mit
kühner Hand den Naturalismus in die Plastik einführen, den dann das
Eyck'sche Brüder-paar bald mit Hülfe der vollendeten Oeltechnik in die
Malerei hinübertrug. Gründlicher und erfolgreicher als irgend ein gleicl1-
zeitiger Italiener stellte der grosse Meister Hubert mit staunenswerth
neuer Kunst die Gestalten bis zum Tauschenden lebenswahr auf die Flache
der Bilder. S0 rasch war der Umschwung, dass die Plastik nicht zu
folgen vermochte. Fast scheint es, als habe sie, geblendet und schier
erschrocken 0b der glänzenden Erfolge der Schwesterkunst, eine Zeitlang
in müssiger Resignation gefeiert, ehe sie sich entschliessen konnte, ihrer-
seits den Wettkampf wieder aufzunehmen. Gewiss ist wenigstens, dass
bis gegen 1450 kein bemerkenswerther Umschwtmg sich in ihren
Schöpfungen geltend macht. Wohl tritt in einzelnen Zügcn ein stärkeres,
wenn auch nicht höheres Lebensgefühl hervor: aber in der ganzen läßrssung
behaupten ihre Werke bis tief in's 15. Jahrhundert, wie wir schon sahen,
den conventionell gothischen Styl, mit der harmonischen Cadenz seiner
Falten, mit dem weichen Ausdruck einer etwas unbestimmten Em-
pfindung.
Was den völligen Durchbruch der neuen Auffassung in der Plastik
erschwerte, war nicht der Mangel an realistischem Sinne, sondern die
fortdauernde Herrschaft der gothischen Architektur. Diese Bauweise, so
sehr sie schon umgestaltet war, so sehr sie, ohne ihr eignes Vorwissen
gleichsam, auch ihrerseits der veränderten Zeitströmung die bedenk-
lichsten Zugeständnisse gemacht hatte, war doch die reinste Tochter des
mittelalterlichen Geistes und musste als solche instinktmässig eine Anti-
pathie gegen die neue natiualistische Richtung haben. Und diese Ab-
neigung scheint gegenseitig gewesen zu sein. Denn gewiss ist es nichts
Zufälliges, dass die Eyck und ihre Schule, so getreu sie in allem Uebrigcn