Erstes Kapitel.
Italienische Bildnerei im 15.
Jahrhundert.
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sich zuwartend zu verhalten. Kaum ist das Resultat aber gewonnen, so
eignet sie es mit ihren Mitteln sich an, und lernt von der Plastik die Ge-
stalten runden und vom Hintergründe befreien, an dem sie früher zu kleben
schienen. Daher ist fast immer dort eine lebensvollere Durchbildung der
Malerei zu finden, wo sie eine gediegene Plastik zur Seite hat.
Bis gegen 1450 steht die Plastik in Italien an der Spitze der Kunst-
bewegung; dann aber rafft die Malerei sich auf und überholt ihre Vor-
gängerin so rasch, dass jener nichts übrig bleibt, als sich in kleinerem
Kreise von Aufgaben zu begnügen. Das Grabmal und die Einzelstatue
bleibt fortan ihr Hauptfeld. Dazu kommen wohl noch Kanzeln, Portale,
Leuchter, Weihwasser-schalen und Taufbecken; bisweilen auch Altäre,
obwohl dort die Malerei bald das erste WVort ergreift. Dass der Malerei
als der specifisch christlichen Kunst auch jetzt die Hauptrolle zufallt, ist
selbstverständlich. Sie versteht besser in grosser Ausdehnung rasch
zu erzählen, zu interessiren, zu spannen. Sie ist ausserdem durch den
Schmelz der Farbe vorzüglich geeignet, die Scelenbewegung, wie sie
im Antlitz sich spiegelt, zu schildern. Erwagt man alles Dies, so
darf man sich nicht wundern, dass die Seulptur in der modernen Kunst
keine höhere Bedeutung und durchgreifendere Wirksamkeit entfaltet. So
gewiss bei den Griechen die Plastik die tonangebende Kunst war, und
die Malerei in zweiter Linie stand, so notlnvendig; musste in der moder-
nen Zeit das Verhältniss sich umkehren. Wer Inöehte darum die antike
Malerei oder die moderne Plastik schlechthin unbedeutend oder werthlos
schelten?
Was aber die selbständige Entwicklung der Sculptur in Italien
jetzt mächtig förderte, war die neue Form der Architektur. Mit dem
Organismus der gothischen Baukunst hatte die Bildnerei hier in einem
mivermeidlichen Oonllikt gestanden. Die Selbständigkeit, nach welcher
jedes plastische Werk in Italien seit Nicole. Pisano strebte, fand einen
Feind an den Formen und den Anforderungen jener Architektur, die in
ihrer strengen Gesetzmässigkeit den Bildwerken nur eine bedingte Stel-
lung und Geltung im knapp zugemessenen Raum gewährte. Daraus war
eine Auflockerung der architektonischen und schliesslich auch der plasti-
schen Prinzipien hervorgegangen. Jede von beiden Künsten hatte ihre
besondern Wege eingeschlagen und sich nur äusserlieh und wie zufällig
Zusamlnen gefunden. Jetzt wurde das anders. Die Renaissance, die ihr
architektonisches System der Antike entlehnte, schuf der Plastik geeignete,
schön mnralmite Flächen an Itriesen, Sockeln, in Wandfclderii, in
Nischen, Giebeln und bei den Krönungen vorspringender 'I'heile. Auf
so wohl vorbereitetcm Platze konnte das plastische Werk seine volle
Einfluss der
Architektur.