Volltext: Geschichte der Plastik von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart

Erstes Buch. 
Man; 
Entwi 
traumartiger Stille da. Diese fast unheimliche Ruhe steht in scharfem 
Gegensatze zu der naiven Lebendigkeit der Reliisfdarstellungeil und be- 
weist, dass hier etwas Anderes, Höheres, Ideales bezweckt sei. Ist es 
nun das instinktartige Bewusstsein, dass nur wahrhaft geistig freie 
Wesen, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, sich in unmittelbarer Be- 
wegung dem Impulse der Seele hingeben dürfen? Gewiss ist, dass in 
dieser ägyptischen Statuenwelt die todtenahnliche Ruhe den Eindruelt 
mühsam bewahrter Würde und Feierlichkeit macht. Nur der unfreie 
Geist, dem wahrhaft menschliche Bildung abgeht, sucht in ätusseren 
(zeremoniellen Satzungen die Airfrcehthalttmg seiner Würde. S0 ist bei den 
ägyptischen Statuen Alles ausserlich, typisch, conventionell. Diesem 
Verhaltniss muss sich auch die künstlerische Durchführung beugen. Die 
Plastik, die einen bedeutenden Anlauf genommen hat zu naturgemässcr 
Auffassung der Formen, bleibt auf halbem Wege stehen. Wohl legt sie 
den Körper in grossartigem Sinn mit kräftiger Betonung des organischen 
Gefüges, mit scharfer Markirung seines Knochenbaucs und der Muskel- 
bildtmg an; aber unter der Hand erstarrt ihr das frisch pulsirendc Leben, 
vertrocknet der harmonische Fluss der Glieder in leeren Schematis- 
mus; convcntionelle Rücksicht im Bunde mit religiösem Ceremoniell und 
höfischer Etikette wirft über die Gestalten die Fessel architektonischer 
Regelmässigkeit, und in diesem Bann erstickt die Seele bildnerischen 
Schaffens. Daher vermag bei den Acgyptern aller Scharfblick des künst- 
lerischen Auges nicht zu einer wahrhaft freien geisterfüllten Schöpfung 
(lurchzudringen. Durch diese strenge Gebundenheit erweisen die ägypti- 
schen Statuen sich als Werke ohne innere Selbständigkeit, die nur im 
unlöslichen Verbande mit der Architektur ihre volle Bedeutung gewinnen. 
Die Museen Europas, namentlich zu Pztris, London, Berlin, Turin bieten 
in ihren ägyptischen Werken zahlreiche Belege für dies Verhältniss. 
Die Unfähigkeit der ätgyptischen Kunst, aus dieser Gebundenheit 
zur Freiheit sich zu erheben, bedingt ihren Mangel an wahrhaft geschicht- 
licher Entwicklung. Wir begreifen daher, wenn erzählt wird, dass bei 
den Aegyptern ein mathematischer Kanon für die Darstelltuig- der mensch- 
lichen Gestalt zur Anwendung kam. Zwar wurde derselbe mehrmals im 
Laufe der Zeiten einer Veränderung unterwerfen, weil das Streben vem 
Schwereren zum Leichteren, vom Gedrückten zum Schlanken dem Schön- 
heitssinn des Menschen eingeboren ist; aber da man nur die eine 
Formel mit der andern vertausehte, so blieb der Geist der Plastik bei 
aller scheinbaren Verschiedenheit wesentlich derselbe, und deshalb 
können wir von einer innern Entwicklung der ägyptischen Kunst nicht 
reden. Im (legentheil dürfte man eher einen zillmäthliehen Rückschritt
	        
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