Zweites Kapitel.
Aegypten.
orientalischem Sinne das geistig Bedeutende durch fremdartige phanta-
stische Fornwerbinduiig und (lureh übergewaltige lilassonhziftigkeit zur
Erscheinung gebracht.
Endlich kommen in jener ältesten Zeit der Pyraniidcngräbor von
Memphis mehrfach Beispiele wirklicher Freisculptur vor, deren Be-
trachtung erst ein vollständiges Bild vom Umfange der (lamaligen ägypti-
sehen Plastik gewährt. Es sind dies sitzende Statuen der Verstorbenen,
in Granit oder anderem schwer zu bearbeitendem Gesteine mit unüber-
trefflicher Vollendung des technischen Verfahrens gciarbeitet. Zu den
tiiehtigsten gehören die sieben sitzenden Kolossalstatuen Schafras, die
man in dem zum Riesensphinx gehörenden Tempel ausgegraben hat. Aus
einem grünen gelbgeaderten Marmor meisterlich gearbeitet, zeichnen sie
sich durch grossartigc Strenge des Styles aus. Bei all diesen Werken
erscheint der Kopf in voller Ausprägung individueller Züge, obwohl die-
selben bei aller Verschiedenheit auf den gleichen nationalen Grundtypus
zurückweisen. So überraschend es aber ist, die ägyptische Kunst schon
so früh zu portraitivahrer Darstellung gelangt zu sehen, so erscheint es
doch noch auffallender, dass (lcnnoeh von hier aus der Schritt zu geistiger
Charakteristik nicht gefunden wird. Man bleibt bei feinstem Beobachten
und sehärfsttam Auspragen aller Besonderheiten der äusseren Form stehen,
ohne die Geheimnisse des inneren Lebens zu berühren. Noch grössercs
Gebundenheit zeigt der übrige Körper, der sitzend, kauernd oder hockend
die Arme fest an den Leib geschlossen, die Füsse in strenger Parallel-
Stellung zusammengezogen, erscvhcint. Manchmal sind sogar die einzelnen
Körperforlnen so wenig ziusgeprägt, (lass das Ganze wie ein ungefiiger
Steinblock aussieht, indessen Oberfläche nur ganz allgemeine Andeu-
tungen der Ilauptformen einer menschlichen Gestalt ziusgeführt sind.
Dies bringt uns auf die Frage, in wieweit ein Bewusstsein vom
natürlichen Organismus in den ägyptischen Statuen zur Geltung kommt.
Die Plastik der Aegvpter zeigt schon in ältester Zeit ein überraschend
klares Üvkarstäinilniss der menschlichen Gestalt, welches (iifenbar auf
scharfer Beobachtung beruht und von bedeutender Uobung des künstleri-
schen Auges getragen wird. Was der Blick dann sicher erfasst hat, das
wciss die Hand mit seltner Gcwandheit wiederzugeben und selbst aus
dem härtesten Gestein sauber und scharf hervorzubilden. Allerdings wird
dies Vermögen durch die Monotonie der Aufgaben erheblich gefördert.
Die statuarische Plastik der Aegypter verzichtet von vorn herein auf
jeden Ausdruck von Leben und Bewegung. Unnahbar in feierlicher Ruhe,
in steifer Haltung, den Blick starr vor sich richtend, die Arme fest an den
Leib geschlossen, sitzen die Tausende von ägyptischen Statuen wie in
Aultustr
nisculpt