Viertes Kapitel.
Nordische Bildnerei der spätgoth
ischen Epoche.
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auch hierin wcieher geschwungcin. Diese iibcrreiche Gewmulbelialidlung,
die sich noch aus antiken Studien hcrschrieb, zeichnete schon in der vori-
gen Epoche die meisten deutschen Schulen aus, und da mit dem vier-
zehnten Jahrhundert Deutschland wieder für längere Zeit an der Spitze
des künstlerischen Lebens im Norden steht, so lässt sich auch hier an
frühere vorbereitende anknüpfen.
S0 tritt an die Stelle der früheren Freiheit und Naivetat jetzt eine
NVeiehheit, die selbst in Sentimentalität und eonventionelles Wesen über-
geht. Aber auch in Tiefsinn und Fülle der Gedanken sind die Werke des
vierzehnten Jahrhunderts denen des dreizehnten nicht ebenbürtig. Nur
selten begegnen uns noch als Naehhall jener grossen Zeit die bedeutsamen
Bildereyiltlen; (lagegen treten uns die Leistungen der Plastik, vereinzelter
wie sie meistens sind, in viel grösserer Verbreitung entgegen. Nicht
bloss in den Portalen, an den Pfeilern der Kirchen und Kapellen, auch an
den Rathhäiusern und Gildehallen, an den Erkern und lüeken der Wohn-
häuser, ja an allen, selbst den einfachsten öiientliehen Monumenten kommt
die Plastik zu ihrem Rechte. Allerdings hatte sie keine neuen Gestalten
zu schaffen, sondern die im vorigen Jzihrhundert gesehalfenen nur zu
wiederholen; aber in (liesei- häufigen Lösung (lerselben Aufgabe erreichte
die Kunst grosse Manniehfaltigkeit, wie man vor Allem an den Tausenden
von ltladonnenstatuen erkennt. Denn keine Gestalt war so beliebt, so
häufig begehrt wie die der jungfraulieheli Gottesmntter, und keine war
so geeignet die Innigkeit und Wärme der Einpiintlnng, welche die Ge-
müther erfüllte, so zur Erscheinung zu bringen.
WVar also die Plastik (lieser Zeit in wichtigen Punkten der früheren
untergeordnet, so suchte sie dafür in andrer Hinsicht einen Fortschritt,
durch genaueres Eingehen auf die Natur, durch schärfere Bezeichnung
und Yollere der Form. Allein auch diese Richtung führte bei
der Schwache der Naturerkenntniss keineswegs zu günstigen Resultaten;
denn da ein Verständniss des gesammten körperlichen Organismus auch
jetzt noch mangelte, so blieb es bei einzelnen Ansätzen, beieiner nur
thgilwejsen Entwielzlung der Form, die den neuen Werken wohl die alte
Ilarlnonie raubte, ohne ihnen dafür eine höhere Lebenswahrheit geben
zu ldinnen. So sind sie nur stylloser, unruhiger als die früheren Arbeiten.
Nur in Werken kleiner Dimension, namentlich in E]fenbeinschnitzercien,
wo der Maassstab eine genauere Durehbildung des Einzelnen kaum zu-
lässt, steht das Wollen der Zeit oft im schönsten läinklange mit (lem
Können. Solche Werke geben uns den reinsten Einth-uck aller liebens-
würdigen Seiten (lieser Zeit.
Liihkv, (lest-h. der Plastik. 25
Naturalis-
mns.