Drittes Kapitel.
Nordische Bildnerei der tfühgothischen Epoche.
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die erste Stelle ein. Dass in der That eine Einwirkung der französischen
Werke stattgefunden hat, scheint besonders aus (lem Inhalt der Dar-
stellungen hO1'VOl'Zllg6l]01l. Im Bogenfelde thront mit dem Christuskindc
hiaiia als gekrönte Königin, zur Rechten von den drei Königen des
hforgenlandes verehrt, denen zur Linken der Nährvater Joseph und der
Erzengel Gabriel gegenüber gestellt sind. An die drei Archivolten ist
mit Geschick eine Darstellung des jüngsten Gerichts vertheilt. In dem
äussersten Kreise sieht man den Engel des Gerichts und die auf seinen
Ruf aus den Gräbern erstellenden Todten, an dem innersten Kreise
Christus von Engeln umgeben, den Auserwählten die Krone des Lebens
reichend; in dem folgenden Kreise sieht man umgeben von Aposteln
einen Engel, der die Seelen in Abrahams Schooss trägt; in dem vierten
Kreise noch andere Heilige, Apostel und Propheten. Auf _den vor-
springenden Kiimpfergesilnsen lagern Löwen, Sirenen und andere phan-
tastische Gestalten; endlich sind zwischen den reich geschmückten Säulen
der Portalwände auf kleinen Satilchen die- fast lebensgrosscn Statuen
von acht heiligen Personen des alten Testamentes aufgestellt, die eine
prophetische Beziehung auf _Maria und den Messias haben. Links beginnt
die Reihe mit der elastisch schreitenden jugendlichen Gestalt Daniels, ihm
folgt eine weibliche mit der Krone geschmückte, vielleicht die Königin von
Saba, dann ein jugendlicher König Salomo, endlich Johannes der Täufer.
Rechts (Fig. 128) erhebt sich die ehrwürdige Gestalt eines langbärtigen
Mannes (Noah oder Aron) mit Sceptcr und Weltkugel; dann eine ge-
krönte Frau, König David mit der Harfe und ein jugendlicher Mann
mit einem Buche, vielleicht der Evangelist Johannes. Der Styl dieser
Werke muss als die höchste Blüthe dessen bezeichnet werden, was die
gesammte Plastik der früheren Epochen in Deutschland erstrebt hatte.
Wie die Architektur des romanischen Styles in Meisterwerken wie der
Dom zu Bamberg ihre letzten Conseqtienzen zieht, so feiert hier die
Sculptur derselben Epoche ihre Vollendung. Wenn die französische
Gothik dieselbe Empfindung der Zeit in andern, dem damaligen französi-
schen Geiste entsprechenden Formen auspiiigte, so haben wir hier eine
ebenbürtige Aeusserung des deutschen Geistes. Sie zeichnet sich aus
(lurch ahnlirßhe Meisterschaft der Ausführung, durch ein verwandtes Natur-
gefühl, das namentlich in den kleinen nackten Gestalten der Aufcrstehen-
den von merkwürdiger anatomischen Detaillirung zeugt, aber ihre
Empfindung ist weicher, inniger, zarter. Schon in dem Relief des Bogen-
feldes, das ausserdem durch freie und edle Raumfülltmg anzieht, ist
besonders in den bewegten Gestalten (lcr knieenden Könige jene Inner-
lichkeit der Emptindung zu spüren. Noch wärmer giebt sie sich in