ZWEITES
KAPITEL.
Aegypten.
Altvr
K1
Charakter
der
Avgyptcr.
Früher als irgend ein anderes Volk haben die alten Aegypter ihre
geschichtliche Existenz in bleibenden Monumenten ausgeprägt. In stolzer
Abgeschlossenheit erblühte an den Ufern des Niles eine reiche, selbstän-
dige Kultur, deren Beginn in Zeiten hinaufreicht, welche in allen anderen
Ländern von undurch(lringliehen Ncbeln der Sage verhüllt sind. Nirgends
auf der Welt ist so früh der Sinn für geschichtliches Leben erwacht;
nirgends hat derselbe in grauer Urzeit sich so nachdrücklich in macht-
vollen Werken verkörpert. Wenn bei den Indern die mystiseh-speculai-
tive Lebensanschauung selbst in späten Tagen noch alle Spuren histo-
rischen Daseins wie mit den üppigen Schlingpflanzen eines Urwaldes in
märchenhafte Dämmemng hüllt, so tritt bei den Aegyptern dreitausend
Jahre vor Beginn unsrer Zeitrechnung das Streben nach scharf bestimmter
Ausprägung der geschichtlichen Verhältnisse in einer vollkommen aus-
gebildeten Kunst zu Tage. Jene Kunst, die damals im unteren Aegypten
die Denkmale von Memphis, die Pyramiden und die Felsengräber schuf,
ist in jeder Art der Technik bereits hochentwiekelt, ihrer Ziele und ihrer
Ausdrucksmittel vollkommen mächtig, das Endergebniss einer in unbe-
kannte Vorzeit hinaufreichenden Kultur.
Dieser Gmndzug ägyptischen Wesens wurzelt in einer dem indischen
Charakter geradezu entgegengesetzten Geistesanlage. INIährend sich dort,
im fernen Osten, das Interesse der realen Gestaltung des Lebens abkehrte,
beruht bei den Aegyptern aller Nachtlruelä auf fester, scharfer Erfassung
der Wirklichkeit. Wohl mag schon in der Urzeit die Beschaffenheit des
Landes diesen in der Stammesart begründeten Sinn gepflegt und gefördert
haben. Galt es ja sich gegen die Uebersclnvemmungeii des Niles in dem
flachen Uferlande durch Damme zu siehem, sodann durch Kanalbauten
und Wasserbehälter den verheerenden Ueberfluss der Gewässer zu einem
segenbringenden umzuwandeln. In solchen Stromnioderungeii bei fort-
gesetztem Kampfe mit den Elementen werden die schlummernden Geistes-
kräfte zur Energie, zu thatigem Eingreifen und Gestalten des äusseren
Lebens wachgerufen: Muth, Ausdauer, Scharfsinn, alle löihigkeiten des
Verstandes werden auf's Höchste gesteigert.