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Drittes Buch.
Mit dem aisketisch strengen, ängstlich befangenen Styl, der dort am Ende
des vorigeu Jahrhunderts herrschte, hat er Nichts mehr genrein. Seine kräf-
tigen vollen (lestaltcen mit ihren freien, selbst kecken Bewegungen und
der mannichfaltigen Gewandung bilden in jeder Hinsicht den schärfsten
Gegensatz zu jenen früheren Werken. Schienen dort die ungeschiekte
Haltung und der Ausdruck klösterlieher Befangenheit das Ideal des
bildenden Künstlers, so richten die bürgerlichen Meister der neuen
Epoche kühn und freudig den Blick auf das ganze reiche Leben, das in
wechselnden Gestalten sie umgab; und wie nunmehr auch in der Orna-
inentik der Bauwerke (lasconventionellc, vom antiken Akanthus abgelei-
tete Blattivcrk der romanischen Epoche den freien Nachbildungen der
Laub- und Blüthenpraeht weichen muss, die der Lenz in unsern heimi-
schen Wäldern und Fluren hervorspriesseil lasst, gerade so feiert in den
selbständigen plastischen Zier-den das erwachte Naturgefühl seine Aufer-
stehung. Dadurch werden die Kathedralen dieser Zeit bis in's Kleinste
hinein der treue Ausdruck des freien bürgerlichen Gemeindelebens, das
diese grossartigen Denkmäler geschaffen hat.
Die frühesten Zeugnisse dieses neuen Styles finden wir an der Kathe:
drale zu Laon. Es sind die Statuetten in den Archivolten des etwa um
1210 entstandenen Irlauptportales der Facade. Derb und keck, in freier
Haltung, imterscheiden sie sich auffallend von allen früheren Arbeiten.
Das erste bedeutendcre Denkmal ist jedoch der Portalsclnnuek der
Facaele von Notre Dame zu Paris, um 1215 ausgeführt. Zimächst
scheint man hier jenes altere Südportal (vcrgl. S. 320) vergrössert und
den neuen Verhältnissen angepasst zu haben. Im Tylnpanon wurden
oben zwei anbetentle Engel, unten in einem Rclietstrcifen die Geschichte
der heiligen Anna, am Mittelpfeilci- die Statue des heiligen Marcellus.
letztere mit sichtlicher Anbequemung an den betätngtnieii stihmalschul-
terigen Styl der älteren Werke hinzugefügt. Das Nordportal, der heiligen
Jungfrau gewidmet, enthält am Mittclpfeilei- unter einem iroch sclnver-
fälligen Baldachin die schlanke feinbewegte Gestalt der Maria, im Bogen-
felde sitzende Prophetenstatuen in breiter (lerbcr Darstellung, darüber
den Tod und die Krönung Maria. Eine Fülle ldeinerer liildxrerke ist
an den Seitenwänden und in den Archivelteu angebracht. Das llaupt-
portal zeigt am Mittelpfeiler die edle Gestalt Christi und ihr
an den Wänden die Apostel, sodann im Bogenfelde das jüngste Gericht.
Ausser zahlreichen kleineren Figuren von lüngeln und Heiligen finden sich
hier wie bei jedem grösseren plastischen Cyklus der Zeit Darstellungen des
Thierkreises und nicht bloss wie gewiöhnlitzh der Beschäftigungen des
Menschen, sondern auch seiner Vergnüguugeir in den verschiedenen Mo-