Drittes Kapitel.
Nordische Bildnerei der frühgothischen Epoche.
333
das wissen sie treu aufzufassen und lebendig wiederzugeben, und wenn
dabei ein gewisser Ausdruck der läcfangenheit sich oft bemerklieh macht,
so hat derselbe den Reiz jugendlicher Schüchternheit, nicht mehr den
Stempel kindischer Rohheit.
Das VOlIStäINiigSÜQ Bild von einem Künstler des dreizehnten Jahr-
hunderts ist uns in dem Skizzenbuche des Fillard von Honncwurt er-
halten, welches sich in der Bibliothek zu Paris befindet und kürzlich in
musterhaftcriVeise veröffentlicht werden istft) Es gicbt uns überraschen-
den Aufschluss über die Vielseitigkeit des Strebens, die hlannichfaltig-
keit der Interessen, welche die (lanmligen Künstler bewegten. Villard
ist vor Allem Architekt und hat als solcher nicht blos in seiner Heimath
ansehnliche Bauten auszuführen, sondern er wird sogar nach Ungarn ge-
rufen, wo er längere Zeit verweilt. Er beschäftigt sich in seinem Skizzen-
buehc mit schwierigen technischen Problemen, giebt Anleitungen über
Aufgabeir der lilechanik und Construction und zeigt sich überall als
scharfsinnigcr, (lenkender Künstler. Daneben versucht er sich, wetteifernd
mit andern Meistern, im Entwerfen neuer, (äigtälltllillliliCllCl' Grundriss-
Combinationen, giebt Andeutungen über die Art, wie er gewisse Probleme
bei der Ausführung im Bau begrilfener Kirchen zu lösen gedenkt und
studirt auf seinen Reisen die Monumente, welche ihm besonders auffallen.
Die Art, wie er diese dann wiedergiebt, scheint dafür zu sprechen, dass
er sowohl vor den Denkmälern selbst, als auch nachher aus der Erinne-
rung seine Zeichnungen zu entwerfen püegte. Aber nicht geringeres
Interesse nimmt er an den Werken der Plastik und Malerei. Sein Buch
ist reich an mannichfaehen Zeichnungen dieser Art, die er theils nach
vorhandenen Kunstwerken, theils nach eigner Anschauung oder Er-
findung entwirft. Manchmal glaubt man die Skizze eines Glasbildes,
einer hliniatur, eines Wandgemäldes oder auch einer Statue zu erkennen.
Die Apostel, der segnende Christus, die Gestalt der triumphirenden
Kirche, die Figuren des Glücksrades, dann wieder ein Kruzifix, eine
trefflichc Composition der Kreuzabnahme, eine höchst bewegte Dar-
stellung des Martertodes der h. Kosmas und Damianus, eine ergreifende
Zeichnung des am Oclberg in Ilodcsangst hingesunkenen Christus und
noch manch ähnliches Bild hat der alte Meister schlicht und anspruchslos,
aber mit lebendigem Gefühl in kräftigen Strichen dem Pergament seines
Buches anvertraut. Bezeichnend ist, dass die Köpfe ihm nach Art
der älteren Kunst ziemlich gleichgiltig sind, und dass er sich keine
Villard von
Honuecolurt.
i) Album de Villard de Honnecourt, manuscrit publiä en fac-
Inis au. jour pur xllfiwrl Darccl. Paris 1858. 4".
-similc par Lassws,