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Drittes Buch.
gesetzt. Als nun die Sagen der Urzeit wieder in "die Poesie eindrangen
war ihnen die nrsliriinglielie Seele geraubt und sie mussten nun in oft
milhevoller und gezwungener Weise sich der inzwischen herrsehend ge-
wordenen christlichen Iknsehaunng anbeqrlemen. Daher kam es, dass
unser Volk kein nationales Epos im Sinne der Ilias _und Odyssee hervor-
bringen konnte; daher kam es ferner, dass die Sänger nicht für das ganze
Volk diehteten, sondern nur für einen auserlesenen Kreis, für das höfiseh
gebildete Ritterthum. Und daher musste die gesammte Poesie das Ge-
präge des Künstlichen erhalten, das nur zu bald in erkünsteltes, eonven-
tionelles Wesen ausartete.
Densclbcn glänzenden Aufschwung zeigt nun auch die Architektur.
Das nordöstliche Frankreich, das im gesammten Kultur-leben damals mit
Erfolg nach der Führerschaft rang, stellt in dem neuen gothischen Styl
eine Schöpfung hin, in welcher Kühnheit der Ccnstruction und Scharfsinn
der Berechnung sich mit glänzender Pracht und dem edlen Ausdruck einer
begeisterten Empfindung verschmelzen. Mit dieser Wendung geht die
Baukunst völlig in die Hände der Laien, der bürgerlichen Meister über.
Aber der ritterliche Geist der Epoche befeucrt auch ihre Phantasie, und
das gesteigerte kirchliche Leben, die schwungvollere religiöse Empfindung
geben ihren Werken einen seelenvolleren Hauch. Dies Alles vermochte
aber nur durch eine reichere Anwendung und höhere Entwicklung der
Plastik sich auszusprechen. Daher sehen wir nun in den Portalen und den
Vorhallen, aber auch an anderen Stellen, in den Galerien der Fagaden, den
Baldachinen der Strcbepfciler, den Wänden der Chorschrankcn die Archi-
tektur eifrig bemüht, aus der bisherigen Knappheit zu breiteren Anord-
nungen überzugehen und der Schwesterkunst eine freiere Stätte zu bereiten.
Architektur und Plastik, von denselben Künstlern ausgeübt, zeigen nun
wieder eine Wechselbeziehung und ein lebendiges Zusammenwirken, wie
es seit der griechischen Blüthezeit nicht mehr erblickt werden war. Denn
nicht in planl0sei' Verwirning, sondern in durchdachter Anordnung breitet
die Plastik ihre Schöpfungen über den Körper des Bauwerkes aus. Da-
durch wird den Bildwerken eine freiere Stellung gesichert, dadurch der
Empfindung die Möglichkeit geboten, die Gestalten ganz zu durchdringen
und in natürlichen Fluss zu setzen. Man erkennt bald, dass die Künstler
sieh ganz anders bewegen als die Meister der früheren Zeit. Sie schauen
mit unbefangenem Blick in's Leben, das sie frisch und naiv aufzufassen
suchen; sie machen ihre Studien nach der Natur und selbst nach der
Antike, freilich meistens mehr nach der Erinnerung als nach der unmittel-
baren Anschauung; sie sind empfänglich für den Ausdruck der Empfin-
dung, welcher in den beweglichen Zügen des Antlitzes sich spiegelt. Alles