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Drittes Buch.
endlich die Kreuzigung, Alles in einem trocknen und dürren Style, der
wieder auf byzantinischen Einflüssen beruht. S0 vermag sich Italien
während dieser ganzen Epoche von längst verbrauchten 'l'ypen nicht völlig
zu befreien und schwankt selbst bei bedeutend gesteigertem Kunstbetricbc
fortwährend zwischen Rohheit und Starrheit. Selbst die einzelnen Regun-
gen eines frischeren Sinnes bleiben für's Erste ohne jeden nachhaltigen
Erfolg.
DRITTES
KAPITEL.
Nordische
Bildnerei
der
frühgothischen
Epoche.
Von
1200
1300.
Schon gegen Ende des zwölften Jahrhunderts liess sich im gcsammten
Leben der abendländischen Völker der Beginn eines neuen ziufsclnvungcs
bemerken. Das zu Ende gehende Zeitalter der Kreuzzüge hatte den Zu-
stand der Nationen wie der Einzelnen durchgrcifend verändert. Der Kreis
der Anschauungen war erweitert, man hatte mit den Eigenheiten fremder
Volkscharaktere sich vertraut gemacht, von der Weltklugheit der Orien-
talen gelernt, überhaupt die Fähigkeit für cineschä1'fe.re Auffassung von
Natur- und Menschenleben bedeutend ausgebildet. Neben den Zügcn der
Kreuzhcere, in (lenen das Rittertlnun seine ideale Prebezeit bestand, hatte
der Handel seine eigenen Wege gefunden, und mit dem Aufschumige
desselben ging die Entwicklung eines mächtigen Bürgerthumes, das nach
Idreiheit und Unabhängigkeit strebte, Hand in Hand. Bis dahin waren
die abendländischen Völker Kindern zu vergleichen, welche in strenger
klösterlicher Zucht gehalten, sich bald schüchtern fügen, bald in unbän-
digem Trotz die Schranken überspringen; bald in angelernten Künsten
und Wissenschaften sich unselbständig bewegen, bald in tinbcholfenen
Wendungen des unausgebildeten eigenen Naturgefühles sich zu äusscrn
versuchen. Aber die Zeit der grossen Völkerbevvegungell in den Kreuz-
zügen hatte die bis dahin Unmündigen rasch gereift, und mit dem Beginn
des dreizehnten Jahrhunderts bricht nun, wie über Nacht der Lenz er-
scheint, niit einem Male glänzend, in tausendfaehen jungen Trieben hervcr,
was im Verborgenen herangereift war: nach langer starrer NVintei-nacht
der Völkerfrühling der abendländischen Nationen.