Zweites Kapitel.
Die
byzantjnisch
romanische Epoche.
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Unsitte, die Kapitäle zu passiven Trägern geschichtlicher Darstellungen
zu machen, wurde also hier in ein vollständiges System gebracht, und
beide Künste, zu beider Nachtheil, mit einander vermischt. Noch augen-
fälliger war dies aber an den untern Theilen der Portale der Fall. Hier
sind unmittelbar an teppichartig geschmückten Säulenschäften auf will-
kürlich angebrachten Consolen überlebensgrosse Gestalten männlicher imd
weiblicher Heiligen, meistens mit reichgesehmückten Diademen gekrönt,
angebracht (Fig. 122). Ueber ihren Häuptern sind ebenso willkürlich an
den Seitenportalen Baldachinarchitekturen angebracht, welche dem Säulen-
schaft ganz äusserlich angeklebt erscheinen. Man sieht, wie die Plastik
sich hier der Architektur gewaltsam aufgedrängt hat. Dafür wird aber
das Leben ihrer Gestalten selbst versteinert, sie sind zu einem integriren-
den Theile der Architektur geworden und lehnen so passiv ausdruckslos
an ihren Säulen wie in den ägyptischen Teinpelvorhöfeii die Priester-
gestalten an ihren Pfeilern. Starr, typisch, säulenartig in die Länge ge-
zogen mit überzierlichem Parallelgefäilt des Gewandes, das in seiner tiefen
Unterschneidung an die Kanellirungen von Säulenschäfteil erinnert, die
Füsse gleiehmässig neben einander und abwärts gesenkt, erinnern sie an
die primitiven Bildwerke auf Leichenstcinen. So stehen sie da nicht wie
gekrönte Fürsten, sondern wie eine Schaai- von commandirten Dienern,
mit derselben gesenkten Kopfhaltung, denselben schmal zusammenge-
drückten Schultern, derselben vorschriftsmässigen Haltung der Arme und
wagen nicht sieh zu rühren, weil jede freie Bewegung sie mit den Nach-
barn und mit der Architektur in Contlikt bringen Würde. Während aber
die Körper so in regnngsloser Starrheit das äusserste Mass byzantiniseher
Strenge noch überschreiten, versucht die Kunst sich an den Köpfen
schadlos zu halten. Zwar vermag sie noch nicht, ihnen den lebendigen
Ausdruck von Empfindung zu geben, wohl aber strebt sie nach dem Ge-
präge des Individuellen, und zwar auf dem Wege einer selbständigen Na-
turauffassiing. Denn hier zum ersten Male begrüsst uns in der mittelalter-
lichen Kunst, die bis dahin die antike Kopfbildnng, freilich zu äusserster
Stunipfhcit hcrahgesunken, festgehalten hatte, wie ein erstes Lächeln des
Frühlings das germanische Volksgesieht mit seinen treuherzig schlichten
Zügen. Freilich noch schüchtern, mit geneigter Ilaltung, die Augen bis-
weilen niedergeschlagen, die feinen Lippen zum Lächeln verzogen, wie im
Ausdruck demüthiger Verlegenheit. Aber aus dieser bescheidenen Hal-
tung weht uns ein neuer Geist entgegen wie aus den ächten archaischen
Gebilden der griechischen Kunst, die ebenfalls die Vorboten einer herr-
lichen Blüthezeit waren. UUWillkllYllCll werden wir an die Statuen des
Tempels von Aegina erinnert, aber der Vergleich zeigt sofort auch den