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Drittes B1
Schranken
der Ent-
xvicklung.
Bewegung der Geister in immer ausgedehnteren Kreisen erkennen lassen.
Die abendländische WVelt avird von mächtigen Strömungen ergriffen und
fortgerissen; die religiöse Begeisterung gewinnt in den Krcuzzügen einen
phantastischen Ausdruck; das Rittcrtlnnn geht seiner Blüthe, das Bürger-
thum einer selbständigen Entfaltung entgegen. Die höheren Interessen
des Lebens dringen in weitere Kreise; der gesteigerte Verkehr mit dem
Orient führt dem Abendlande neue Anschauungen zu; der Handel sucht
und findet neue Wege; Alles regt und entfaltet sich mit jugendlicher Le-
benskraft. Die Nationen bilden im gesteigerten WVechselverkehr ihre
Eigenthümliehkeit scharfer und charaktervoller aus, und diese kräftigere
Selbständigkeit giebt allen künstlerischen Werken ein neues Gepräge.
Freilich kommt dies in erster Linie der Architektur zu Gute. Sie wird
mehr noch als vorher die führende, die tonangebende unter den Künsten;
denn die grossen, neu entwickelten Volkstypen mussten naturgemass zu-
nächst in den Werken derjenigen Kunstywelche vorzugsweise die allge-
meinen Ideen der Zeiten und der Massen zu verkörpern berufen ist, ihren
Ausdruck gewinnen. Aber diese Umgestaltung macht sich sofort auch
an den Arbeiten der Bildnerei geltend. Die grössere Lebendigkeit des
Wollens, das Streben nach reicheren Formen, welches die architekto-
nischen Werke fortan kraftvoller gliederte, mannichfachei- schmückte und
besonders eine ganz neue Entfaltung des Portal- und Fagadenbaues 11er-
vortrieb, konnte nicht ohne die lebhafteste Betheiligung der Plastik zur
Verwirklichung kommen. Früher hatte man die bunte Farben- und Gold-
praeht des Inneren- das Erbe byzantiniseher und altchristlieher Kunst
dazu für genügend erachtet. Jetzt verlangte man nach einer dem bau-
lichen Organismus sich unmittelbarer ansehliessenden, oder vielmehr aus
ihm Dekoration. Jene alten Prunkstotfe wurden darum
nicht mitgegeben, aber doch auf einen gewissen Kreis von Aufgaben ein-
geschränkt, der sogar ihn-eh die Rüekwirküng der architektonisch ge-
wordenen Bildnerei eine Bereicherung und neue Belebung empfing. Aber
es irurde nnnlnehr auf eine gediegene monumentale Plastik in Stein und
in einem bildsamen, sich steinartig erhartenden Stuck ein ganz anderes
Gewicht gelegt. Die Altäre, die Kanzeln, die Schranken, welche den Chor
von den übrigen Itaiunen trennen, werden in dieser Weise ausgeführt und
mit Sculpturen reich geschmückt. An den Taufbrunnen tritt die Stein-
plastik mit dem Erzguss in die Schranken. Endlich bieten die stattlicheren
Portale, die gesannnten Fagaden, oft auch die Chorseiten (ler Kirchen
dem Bildhauer reichen Anlass zur Bethätignng.
Man würde indess irren wenn man glaubte, dass diese vielseitige
Thätigkeit schon bald zu einer höheren Vollendung der plastischen Werke