292
Drittes Buch.
Erzsäule
zu
Hildesheim.
Andere
Erzwerke
sich ganz vom Grunde löst und sich dem Beschauer entgegen neigt,
wodurch der Mangel an organischem Verstandniss der menschlichen Ge-
stalt noch auffallender wird.
Wie wenig man sich damals über die Gesetze der Rcliefbilrlnerei
klar war, wie sclnvankeiul man nach einer festen Regel umhertappte, be-
weist ein anderes von Bernward herrührendes Werk, die ehemals in der
Michaeliskirche befindliche, jetzt auf dem Domplatz aufgestellte eherne
Saule, welche 1022 errichtet wurdet]. Nach Verlust des Kapitals und
eines Kruziüxes, das auf demselben stand, ist die Säule noch jetzt an
fünfzehn Fuss hoch und vollständig mit Reliefs bedeckt, welche spiral-
förmig den Schaft umziehen. Diese schildern in vielen aneinander gereih-
ten Scenen die Geschichte Christi von der Taufe bis zum Einzuge in J eru-
salem, ergänzen also die Lücke, welche auf den Dai-stcllungcil der Thür
geblieben war. TVenn die Anordnung solcher Säulen im Chore der Kirchen
damals nicht selten war, so steht doch eine derartige plastische Aus-
schmüekung (lersclben ganz vereinzelt da und ist nur (lurch das Beispiel
der Trajanssänlc in Rom, welche Bernward aus eigener Anschauung
kannte, zu erklären. Wir haben also hier einen neuen merkwürdigen Beleg
für die nachhaltige Kraft der antiken Ueberlieferung und für den Eifer,
mit welchem damals das gelehrte und ktinstlerische Deutschland die Antike
studirte. Die Beniwardssanle ist in dieser Hinsicht das plastische Seiten-
stück zu den lateinischen Dramen der Gandersheimer Nonne Roswitha.
Auch die Behandlung des Reliefs, abweichend von der an's Durftige gren-
zenden Klarheit der Thürsculpturen, schliesst sich der gedrangteren Fülle
des römischen Vorbildes an. Die Figuren selbst sind wohl noch roher,
als die auf der Thür, während die Auffassung ebenso naiv und zum Theil
von ansprechender Lebendigkeit ist. Beide Werke zeigen deutlich, dass
es der jungen strebsamen Kunst nur an der Uebung und der strengeren
architektonischen Zucht fehlt, die erst da gewonnen wird, wo die Bautha-
tigkeit die Plastik zu grösserer Betheiligtulg heranzieht.
Dass der Erzgnss im weiteren Verlaufe des elften Jahrhunderts in
Deutschland schwungvoll betrieben wurde, ohne jedoch erhebliche Fort;
schritte zu machen, geht aus einer Anzahl erhaltener Werke, die sich in
verschiedenen Gegenden finden, hervor. Die Mehrzahl gehört dem nörd-
liehen Deutschland an. So im Dome zu Erfurt die eherne leuchter-
tragende Statue einer bekleideten männlichen Figur von herber Strenge
Ungenügende Abbildungen der Säule bei Kratz, der Dom zu Hildesheim.
Ein Relief der Thür in charakteristischer Zeichnung bei Kugler, Kunstgeschichte,
4. Aufl. I. S. 397.