288
Drittes Buch.
Diese kleine Auswahl
sehen die Elfenbeinarbeit
möge für unsere Betrachtung genügen. Wir
seit dem 10. und mehrfach im Laufe des
Pracht-
metalle.
11. Jahrhunderts vorzüglich in Deutschland gepflegt, durch die Kunst-
liebe der Kaiser und den Reichthum der Klöster mächtig gefördert. Die
in Rohheit versunkene Technik erhält durch byzantinische Muster eine
strengere Schule. Aber wenn sie sich auch eine bessere und geschicktere
Behandlung aneignet, so nimmt sie doch nicht die Starrheit des byzanti-
nischen Styles an. Vielmehr strebt sie überall nach neuem Ausdruck,
nach Leben und Bewegung. In der Arbeit des Tutilo fanden sich erst
leise Spuren dieses geistigen Aufsehwunges, im Laufe des 11. Jahrhun-
derts dagegen wird derselbe immer mächtiger. Im Bestreben, den Ge-
stalten einen tieferen Ausdruck, den Seenen eine dramatische Lebendig-
keit zu verleihen, werden die itusseren formalen Gesetze aufs Neue ver-
nachlässigt, die Verhältnisse des menschlichen Körpers unrichtig und
Hüehtig aufgefasst, namentlich Köpfe, Hände und Füsse, kurz alle feine-
ren Theile ungebührlich gross und ungeschickt gezeichnet. Man kann
deutlich sehen, dass in demselben Maasse der neue Zug nach Wahrheit
und Lebendigkeit wächst, als die antiken Traditionen verblassen und
der Byzantinismus zurücktritt. Die junge germanische Volksseele regt
sich und ringt gewaltig zum Lichte. Ihr genügt es nicht, denselben
Gegenstand in vorsehriftsmässiger Weise gedankenlos zu wiederholen,
sondern sie giebt ihn in immer neuer Fassung, bereichert mit einer Fülle
symbolischer Beziehungen, belebt durch den Ausdruck der Empfindung.
Was sich aus diesem Streben ergiebt, ist dem inneren Wesen, nicht der
äusseren Form nach, ein jugendlicher Naturalismus, der seine eigenen
Wege geht und zu ganz besonderen Olienbarungen gelangt. Er stammelt
in heftigen, selbst übertriebenen Bewegungen, er arbeitet sich mühevoll
ab in den Fesseln einer traditionellen, längst hohl gewordenen Form,
und vermag doch das Auge noch nicht für die Natur" als das sicherste
Vorbild zu erschliesscn, weil die Kirche alle Beziehung zum natürlichen
Leben abgeschnitten hat, und ihre heiligen Gestalten in einem typischen
Gepräge überliefert sind. Aber schon jetzt gewinnt man aus diesen be-
deutsamen Anfängen die Zuversicht, dass aus ihnen eine neue grosse
Kunst erwachsen muss, sobald die Umstände es gestatten.
Hit der Elfenbeinsehnitzerei ging die Arbeit in kostbaren Metallen
Hand in Hand. Die Kirchen wetteifertcn mit einander in prächtiger
Ausstattung ihrer heiligen Geräthe, besonders des Altars und des Sauce
tnarimns. Die Altartisehe wurden mit Antependien von getriebenen
Metallplatten bekleidet, an welchen Reliefs, Filigranornaniente, Schmelz-
malereien und kostbare Edelsteine, darunter selbst antike Gemmen und