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Drittes Buch.
Madonna, den lllartertod des heiligen Kilian und Christus mit Maria und
Johannes enthalten. Besonders merkwürdig sind zwei Relieftafeln in der
Bibliothek zu St. Gallen, die man dem berühmten Abte Tutilo (starb 912)
zuschreibt. Auf der einen (Fig. 116W) sieht man in der Mitte die ju-
gendliche Gestalt Christi throncnd, umgeben von zwei Chernbgestalten mit
sechs Flügeln, die in ganz steifer Haltung die Hände ausstrecken. Viel
lebendiger sind dagegen in den Ecken die vier Evangelisten. Johannes,
ein Greis mit langem Barte, schreibt auf eine Pergamentrolle, Matthäus
in ein Bueh, Markus spitzt mit grosser Anstrengung seine Feder und
Lukas taueht die seinige ein. Auch die vier den Evangelisten beigege-
benen symbolischen Gestalten zeigen grosse Lebendigkeit der Haltung.
Endlich sind Sonne und Mond, Erde und Meer in völlig antiker Weise
hinzugefügt- und als Gottheiten personilieirt: S01 und Luna mit Fackeln
in den Händen, Strahlenkranz und Mondsichel auf dem Haupte, Tellus
und Oeeanus in ganzer Gestalt lagernd, die erstere mit dem Füllhorn in
der Hand und einen Säugling an der Brust, Oeeanus mit einem Meer-
ungeheuer und einer Urne, aus welcher sich Wasser ergiesst. Die zweite
Tafel ist in drei grosse Felder getheilt. Auf dem mittleren sieht man die
Hinnnelfahrt der Maria. Die heilige Jungfrau ist wieder in derselben
steifen Haltung mit gleiehmassig ausgestreckten Händen dargestellt, wie
auf der ersten Tafel Christus unddie beiden Cherubim. Ihre schlanke
Gestalt ist mit einer antiken 'l'uniea und darüber mit einem langen Tleber-
rock, der einen Kragen hat, angethan. S0 steif die Hauptgestalt, so an-
muthig bewegt sind auf beiden Seiten die vier Engel, welche, ihre grossen
Flügel ausbreitend, die Madonna feierlich zu empfangen scheinen. Die
antike Gewmitlung, die durelnveg festgehalten ist, kennt nieht mehr den
freien Faltemvurf, sondern löst sieh in lauter kleine Parallelfältehen auf.
Naiver und anziehender sind in dem unteren Felde zwei Darstellungen aus
dem Leben des heiligen Gallus"): wie der Bär im Walde ihm Holz zu-
t-ragt lmd wie der heilige lllann den dienstfertigen Gehülfen dafür mit
einem Brode belohnt. Ein gemüthlieher Zug germanischen Naturlebens
klingt uns hier aus der Darstellung entgegen. Für das dritte Feld endlieh
mochte dem Künstler kein passender legendarischer Stoff zu Gebote
4') Die beigefügte Abbildung in rler Grösse des Originals ist nach einer Zeich-
nung des Herrn A. Griitez- in Zürich gefertigt, welche genauer und treuer als die
bisherigen Darstellungen rlen Charakter des Werkes wieclergiebt. Die antiqua-
rische Gesellschschzzft in Zürich bereitet eine würdige Vciiiflelitlicluliig des Ganzen
VOY.
H) Abgeb.
in Piporß-
Kalender
1560.