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Drittes Buch.
müther mehr zu sichern. Von der natürlichen Basis verdrängt, die ihnen
heimisch und vertraut gewesen, fühlten sie sich auf dem neuen Boden des
Uhristenthurns vollends als Fremde. Denn die höheren geistigen Anfor-
derungen desselben vermochten sie um so weniger zu fassen, je schätrfer
diese den Geboten der Natur entgegentraten. So entstand auch hier der
tiefe Zwiespalt zwischen dem natürlichen Gesetz und den Geboten einer
spirituellen Lehre, dessen erstes Stadium nothwendig ein negatives sein
musste.
Schäigävlrn Unter solchen Verhitltnisscn ging das zehnte Jahrhundert zu Ende.
iiesensamß- Da regte sich in den aberglitubischen Gemüthern eine Furcht, die sich
bald dem ganzen Abendlande mittheiltc: die Furcht, dass das Jahr
Tausend die Rückkehr des Messias und den Untergang der Welt bringen
werde. Das Gefühl der tiefsten Verderbthcit bemäehtigte sich Aller, und
mit ihm eine leidenschaftliche Reue und Busse. Dieser Anstoss wirkte
nachhaltig zu dem geistigen Umsehwunge mit, der nunmehr sich bald be-
merklieh macht. Das Christenthunl hatte Zeit gehabt, sich in den Herzen
zu befestigen; aber freilich fasste man es meist roh und üusserlich auf.
Und so entstand jener lange Kampf der Geister, in welchem man zwischen
die Gebote der Natur und des religiösen Sittengesetzes hineingestellt, Beide
mit einander auszusöhnen suchte. Trat die Kirche mit der strengen For-
derung der Einheit, der Unterordnung des Einzelwillens, der Abtödtung
der natürlichen Empfindung auf, so suchte der germanische Freiheitssinn
die Selbständigkeit des Individuums dagegen (lurehzusetzen. Zuerst offen-
barte sieh diese Opposition in der ungezügelten NVildheitt einer Natur-
kraft, die nur mit. trotzigem Widcrstreben sich von einem niüelitigeren
Gegner unterjocht fühlt. Daher im frühen hlittelalter jene zahlreichen
Beispiele gewaltsamer Auflehnung, wilden Uebermuthes, die eben so
jäh mit reuigcr Zerknirschung wechseln. In dem hlaasse aber, wie die
Sehroffheit dieser Verhältnisse sieh allmählich milderte und die Gemüther
sich einer höheren Bildung erschlossen, nimmt jene Opposition eine
andere (iestalt an. Sie sucht nun,.innerhalb des christlichen Gesetzes,
für die Freiheit des individuellen Gefühlcs einen Ausdruck, und sie findet
die schönste Form dafür in den Werken der Kunst. Daher bietet uns die
Geschichte der Bildnerei im Mittelalter das erhebende Schauspiel eines
im Anfange noch vielfach rohen und unklaren Ringens, das aber zu immer
reinerem Ausdruck sich (lureharbeitct und endlich in den Werken der
höchsten Blüthel eine Schönheit entfaltet, in welcher die Gegensätze für
einen Augenblick versöhnt erscheinen. Das ist die Zeit des dreizehnten
Jahrhunderts. Noch einmal tritt dann für kurze Zeit ein Nachlassen und
Sinken ein, aber nur um die Aufgabe von einer anderen Seite, noch