Viertes Kapitol.
Die Bildnerei bei den Römern.
235
als Penelope und "Felemaeh, Theseus und Aethra, lülektra und Orest ver-
sucht worden sind, ist durch Otto Jahn zuletzt eine Deutung gegeben
wortlen, welche mehr als jede andere das Kunstwerk vollständig erklärt.
Es ist Aepytos, welcher nach langer Abwesenheit zurückkehrt, um seine
Mutter Merope an ihrem Gemahl Polyphontes, dem- Mörder ihres ersten
Gatten, zu rächen. Um den Frevler sicher zu machen, hat Aepytos sich
für den Mörder des Sohnes ausgegeben. Merope, ausser sich vor Schmerz,
steht schon im Begriff, ihr Kind an dem Fremdling zu rächen, als durch
den alten Erzieher der ehemalige Ptlegling erkannt und der Sohn der
Mutter wiedergegeben wird. Diesen von Enripidcs dramatisch behandel-
ten Stoff, den auch der römische Dichter Ennius bearbeitet hatte, führt
das hlarmorwerk in dem ergreifenden Momente der Wiedererkennung
vor. Die Gruppe ist fein bewegt und innig empfunden, die Ausführung
bei grosser Sorgfalt in der Anordnung des Gewandes nicht frei von ge-
snczhter Zierlichkeit, wie denn überhaupt die unmittelbare Frische der
ersten Empfindung ihr abgeht.
Zu den vorzüglichsten Werken dieser Zeit gehört sodann der Apollo
vom Belvedere, in den Ruinen des alten Antium gefunden, jetzt eines der
gefeiertsten Werke des Vatican (Fig. 97). Die eleganten Formen des
schlanken Körpers zeigen sich in unverhüllter Schönheit, nur über die
linke Schulter fallt die Chlamys auf den Arm herab, der weit vorgestreckt
die Aegis mit dem itlednsenhaupte hieltit). Der rechte Arm ist leieht vom
Körper abgewendet, beide Hände tibrigens sind ungeschickt erneuert. Die
a) Für die Auffassung des belvederisehen Apollon vergl. besonders Fmlerbacliir
berühmte Schrift, die das Bildwerl-z zum Ausgangspunkt-e einer Reihe archäologi-
scher und ästhetischer Untersuchuingen machte. Zur Erklärung des Kunstwerkes
sind sodann in jüngster Zeit die Schrift Slephaniäs- (Apollon Boödromios, Bronze-
stutue des Grafen Stroganoff. Petersburg 1860) und die sich daran sehliessende
gelehrte und sehurfsinnige Abhandlung llfiitavclez-är (der Apollon Stroganoff und der
Apollon vom Belvedere. Leipzig l86l) von grösster Bedeutung. Jene gegen 1792
zu Paramythia unfern Janina gefundene, jetzt im Besitz des Grafen Stroganot? be-
findliche Statuette ist mit der Statue vom Belvedere in allen wesentlichen Punkten
so übereinstimmend, dass beide nach demselben, aus der grieehisdhen Blüthezeit
stammenden Original gearbeitet sein müssen. Die Stntuette lässt ferner keinen
Zweifel (luran, dass an einen Bogen in der Hand des Gottes nicht mehr zu denken
ist, sondern dass er höchst wahrscheinlich die Aegis mit dem Gorgoneion in der
Linken hielt, um einen verderblichen Feind damit in die Flucht zu jagen. Als
diesen Feind mÜchteWieselcr nicht sowohl (nach I1. XV, 318 Ff.) die Schaaren
der Aehüer, als vielmehr den pesthringenden Ares (nach Soph. Oed. R. 159 H.) an-
gesehen wissen, weleheu Apollo als [lnheilabwender (Alexikakes, Apotropztios)
vertreibt. Meines Bedünkens von allen bisherigen Erklärungen des Kunstwerks
die schönste und befriedigendste.