Volltext: Geschichte der Plastik von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart

Viertes Kapitel. 
Die Bildncrei bei den R6 
IIGYIL 
22T 
ERSÄPE 
PERIODE. 
V 011 
der 
Eroberung 
Griechenlands 
bis 
Augustus. 
46 v. 
Chr. 
14 n. 
Chxw) 
Mit (lcm Untergange der griechischen Freiheit erlosch die Quelle 
jener Begeisterung, welcher die höchsten Werke der Blüthezeit ihre Ent- 
stehung verdanktcn. Der Genius des hellenisehen Volkes hatte sich 
erschöpft; neue Gedanken vermochte er auf keinem Gebiete mehr zu 
erzeugen. Wie wunderbar muss aber die künstlerische Begabung jener 
Nation gewesen sein, wenn sie trotzdem in der bildenden Kunst noch eine 
Nzichblüthe hervortrieb, deren Erzeugnisse zum Schönsten und Glänzend- 
sten gehören, was wir von antiken Denkmälern besitzen, und die nur von 
den Originalwerken der Zeit des Phidias übertroffen werden! Das Meiste 
und das Beste, was die Museen Italiens, Frankreichs, Deutschlands be- 
sitzen, ist erst dieser späten Naehblüthe entsprossen, und wie hoch der 
künstlerische Werth dieser Arbeiten ist, mag man schon daraus schliessen, 
dass sie für unübertrctflieh galten, so lange die monumentalen Reste 
Attika's noch unbekannt und wie in Vergessenheit gehüllt dastanden. S0 
wirft die griechische Plastik vor ihrem völligen Untergang in einer langen 
Dämmerung noch einen verklärenden Schein über mehrere Jahrhunderte 
des römischen Kaiserreiches. 
Seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. finden wir eine Reihe 
von Künstlern aus allen Theilen Griechenlands in und für Rein thätig. 
In erster Linie stehen die Meister von Athen, welches noch einmal, in der 
neu-attisehen Schule, eine glänzende Nachblüthe erleben sollte. Diese 
Künstler sind nicht eigentlich erfinderisch, wohl aber in dem Grade 
schöpferisch, dass sie mit feiner Empfindung die Werke der grossen 
Blüthczeit in sich aufzunehmen und in hoher Vollendung nachzusehaifen 
wissen. Zu solcher reproducirenden Thätigkeit ist nicht bloss meisterliche 
Gewandtheit im Technischen, sondern eben so sehr Lebhaftigkeit und 
Wanne künstlerischer Auffassung erforderlich. Daher erreichen ihre 
Werke durch grösste Zartheit der Durchbildung, vollendete Feinheit 
rhythmischer Bewegung, "weichen Schmelz der Uebergange und lebens- 
volle Linienführung einen Reiz, der ihnen die Bewunderung aller Zeiten 
Sichert. Nül" das Eine fehlt ihnen: die naive Unmittelbarkeit, die unbe- 
Wusste Anmuth, welche in den Originalen der früheren Epochen uns als 
Sprühendes Leben schöpferischer Urkraft berühren. Jenen gegenüber 
empfindet man in diesen Spatlingen des griechischen Meissels allerdings 
den kühleren Hauch einer Reflexion, die mit absichtsvoller Bewusstheit 
Küustluri- 
scher 
Charakter.
	        
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