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Zweites Buch.
Niobiden, waren aus einer Anzahl von Einzelgestaltenlzusammcngcsetzt,
die gleichsam in epischem Bezuge zu einander standen. Im Laokoon ist
zum ersten Mal eine innigere dramatische Verschlinguxig mehrerer Ge-
stalten zu einem Ganzen wahrzunehmen. Solche Art der Gruppenbildung
steht bereits an der Grätnze der Plastik und schreitet stark ins Malerische
hinüber; denn die einzelnen Gestalten kommen nur zu bedingter Entfal-
tung, treten durch Verbindung und Gegensätze in mehr malerische als
plastische Beziehung zu einander. Auch "in dieser Hinsicht bezeichnet
der Laokoon die letzte Consequenz und die äusserste Granze der grie-
chischen Bilthierei.
In nächster Verwandtschaft zum Laokoon steht ein zweites Werk
dieser Zeit, das ebenfalls auf Rhodos und seine Schule zurückzuführen ist:
der sogenannte "farnesischc Stier", von Apollonios und T a-urislaos aus
'I'ralles in Karien gearbeitet. Wir dürfen diese Künstler wohl zu (len-
jenigcn auswärtigen Meistern rechnen, die in und für Rhodos thatig
waren. Vtlciligstens gelangte die kolossale Gruppe von Rhodos nach Rom
in den Besitz des Asinius Pollio, wie Plinius meldet. Unter Papst
Paul III. (l534-49) bei den Thermen des Oaraealla gefunden, kam sie
mit der farnesischen Erbschaft nach Neapel, dessen Museum sie jetzt
besitzt. Obwohl an manchen Stellen stark restaurirt, ist sie ihrer Com-
position nach im Wesentlichen richtig und entspricht der Angabe, welche
Plinius über ihren Inhalt macht. Diese beruht auf einer Sage, die in der
kleinasiatischen Kunst jener Zeit mehrfach behandelt worden ist und na-
mentlich nebst einer Anzahl anderer Darstellungen der Kindesliebe am
Tempel der Apollonis in Kyzikos wiederholt war, welchen gegen Ende
dieser Epoche um 150 v. Chr. Attalos II. von Pergamos dem Andenken
seiner Mutter weihte. Die farnesisehe Gruppe scheint indess die früheste
Darstellung dieses Gegenstandes zu sein, der allerdings dem Geiste dieser
Zeit besonders zusagen musste.
Der Inhalt der Oomposition bezieht sich auf die Strafe, welche Ze-
thus und Amphion, die Söhne der Antiope, um ihre Mutter an der Dirke
zu rächen, über letztere verhängen. Denn Dirke hatte nicht allein mit
ausgesuchter Grausamkeit die Antiope gequält, sondern sogar den beiden
Söhnen, die als unbelaannte IIirtcn aufgewachsen waren, befohlen, ihre
Gegnerin an die Hörner eines wilden Stieres zu binden und zu Tode
schleifen zu lassen. Der Muttermord sollte eben geschehen, als die Er-
kennungsseene zwischen Mutter und Söhnen (lurch einen glücklichen
Zufall herbeigeführt wurde. Nun wendete sich das Blatt, und die
ergrimmten Söhne thaten der Dirke, was diese der Antiope zugedacht
hatte.