Zweites Kapitel.
Die
griechische Plastik.
Geschichtliche Entwicklung.
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über die Lösung einer solchen Aufgabe. Der pyrillllidällß Aufbau dC-S
Ganzen, welcher sich in der Gestalt Laokoons gipfelt, die Anordnung
der Schlangen, welche die drei Körper unlöslich umstricken und sie
ebensowrvhl trennen wie zu einem Ganzen verbinden, ohne die volle
Entfaltung ihrer Schönheit irgend zu verdecken; endlich die Kontrast-e
in den Bewegungen des männlichen und der beiden jugendlichen Körper,
die Abstufungen des Ausdrucks, das Alles sind Vorzüge, die hohe Be-
wunderung verdienen. Ebenso trelflich ist im Einzelnen die Durchführung
der Gestalten, in denen das gründlichste anatomische Studium sieh aus-
spricht. Aber es lasst sich auch nicht leugnen, dass die Behandlung
schon viel von absiehtlicher Darlegung dieses Studiums verräth, und
dass dadurch der Auffassung jene naive Unmittelbarkeit fehlt, welche den
Werken einer einfacheren Kunst so hohen Reiz verleiht. Die scharf und
vereinzelt ausgeprägte Muskulatur an einem Körper Wie der Laokoon hat
bereits etwas Bewusstes, Prahlerisches, und ebenso zeigt die Bildung der
Köpfe, nalnentlich der beiden Knaben, eine etwas manierirte Auffassung.
Und wie steht es schliesslich u1n den geistigen Gehalt des Werkes?
Ohne Zweifel vermögen wir darin nur den erschütternd (largestellten Akt
eines höchsten körperlichen Leidens zu erkennen. Man hat in Laokoons
Ausdruck zugleich den Schmerz des Vaters um den Untergang der Söhne
sehen wollen. Mag man dergleichen herausdeuten, immer bleibt der un-
mittelbare Anlass des schmerzvollen Zusammenzuckens in Laokoon au-
genscheinlich der Biss der Schlange, also das eigne körperliche Leiden.
Er kann nicht eiimial mit einem Blicke mehr dem Sehne zu Hülfe eilen,
denn der plötzliche Biss des Unthiers hat ihn der Besinnung beraubt.
Ganz anders ist es in der Niobegruppe, wo die Mutter einzig und allein
durch Seelenschmerz beim Leiden ihrer Kinder gefoltert wird und wo in
ihrem Blicke sich das hohe Bewusstsein einer Königin imd der ganze
Gram einer Mutter spiegeln. In der Niobe ergriff uns die sittliche Macht
einer Tragödie; im Laokoon packt uns die Erschütterung einer patholo-
gisch entwickelten Katastrophe. Hier versöhnt keine ethische Grundidee
mit dem Entsetzlicheil, nur die virtuosenhafte Kunst der Behandlung
dampft den Eindruck. Je langer und öfter wir daher die Niobe betrach-
ten, um so tiefer wird sie sich tuisrer Phantasie bemächtigen; die Lao-
keongruppe dagegen wird uns allmählich gleichgültiger, weil der heftige
Ausdruck physischen Leidens auf die Dauer die Seele abstumpft.
So sehen wir in Werken wie der Laokoon die letzte Stufe einer
selbständigen Entwicklung der griechischen Plastik, die ausserste Stei-
gerung, deren das Pathos fähig war. Dem inneren Gehalt entspricht denn
auch die Form. Alle früheren Gruppencompositionen, selbst noch die der
Geistiger
Gehalt.
Das Patho-
logische.